Krisen in der Ukraine und im IranDer Atom-Diplomat, der kein Risiko scheut
IAEA-Chef Rafael Grossi muss derzeit gleich zwei nukleare Krisen managen: Der Iran zeigt sich wenig konzessionsbereit bei den Atomverhandlungen in Wien. Und in der Ukraine ist das grösste Kernkraftwerk Europas mit Raketen beschossen worden.
Eigentlich hatte Rafael Mariano Grossi auf ein paar Tage Erholung gehofft. Doch die Weltlage lässt den Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) auch in den Ferien nicht zur Ruhe kommen. Zum einen ist das grösste Kernkraftwerk Europas, im ukrainischen Saporischschja, am Wochenende offenbar mit Raketen angegriffen und bei Gefechten beschädigt worden.
Dabei hatte Grossi noch vergangene Woche in New York bei der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag eindringlich vor den Gefahren gewarnt, die vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für die zahlreichen Atomanlagen des Landes ausgehen.
Zum anderen verhandeln noch immer in Wien, wo die IAEA auf dem UNO-Campus im 22. Bezirk nahe der Donau residiert, Diplomaten der EU, aus dem Iran und den USA im Palais Coburg im 1. Bezirk darüber, ob die Islamische Republik wieder zum Atomabkommen zurückkehrt.
Verräterische Uran-Spuren
Der Iran verlangt, dass Grossis Inspektoren die Untersuchung dreier Einrichtungen beenden, die das Regime in Teheran nie als Teil seines Atomprogramms deklariert hat. Gebäude waren dort abgerissen und Säuberungsarbeiten vorgenommen worden, doch die Kontrolleure fanden verräterische Uranspuren.
Auf plausible Erklärungen dafür wartet Grossi seit Monaten vergebens. Zwar ist die Untersuchung unabhängig vom Atomabkommen, aber die Vertragsparteien haben die IAEA beauftragt, dessen Einhaltung zu überwachen. Grossis Behörde hat ein technisches Mandat und ist zu Neutralität verpflichtet. 27 Kameras, die zur Überwachung installiert waren, hat der Iran abgeschaltet. Ohne Zutun Grossis wird es kaum eine Lösung in all diesen Fragen geben.
Grossi (61), verheiratet, Vater von acht Kindern, trat im Dezember 2019 an die Spitze der IAEA mit ihren etwa 2500 Mitarbeitenden. Er setzte sich im Gouverneursrat, dem höchsten beschlussfassenden Gremium, mit Unterstützung der USA und europäischer Staaten gegen drei Mitbewerber durch. Damit folgte er als sechster Generaldirektor auf den Japaner Yukiya Amano, der im Amt gestorben war.
Immer wieder in Teheran und Tschernobyl
Grossi war nach einem Studium der Politik an der Päpstlichen Katholischen Universität von Argentinien in Buenos Aires 1985 in den diplomatischen Dienst seines Landes eingetreten und stieg dort bis zum politischen Direktor im Aussenministerium auf. Er arbeitete bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) und als Kabinettschef Amanos bei der IAEA. Vor seiner Wahl zum Generaldirektor vertrat er sein Land als Botschafter in Österreich und bei den internationalen Organisationen in Wien.
Grossi hat gezeigt, dass er aktive Diplomatie als Teil seines Jobs sieht und dabei weder politische noch persönliche Risiken scheut. Er ist wiederholt nach Teheran gereist, um dort mit der Regierung über die Überwachung des iranischen Atomprogramms zu verhandeln.
Auch in der Ukraine war er nach Kriegsbeginn mehrmals. Persönlich führte er Ende April eine Unterstützungsmission der IAEA nach Tschernobyl an, nachdem russische Soldaten dort zeitweise die Kontrolle übernommen hatten. Zuvor schon hatte er das Kernkraftwerk Ukraine-Süd im Bezirk Mikolajiw besucht. Er hat Präsident Wolodimir Selenski in Kiew getroffen und mit Vertretern des russischen Aussenministeriums verhandelt. Seinen Vorschlag, Sicherheitszonen um die Atomkraftwerke und andere kerntechnische Anlagen einzurichten, konnte er allerdings nicht durchsetzen.
Aus Saporischschja erhalte er nur sporadisch Daten von Sensoren, hat Grossi gerade erst im Gespräch beklagt. (Lesen Sie hier das grosse Interview mit Rafael Grossi.) Die Angaben Russlands und der Ukraine zur Situation klafften jedoch auseinander. Nur ein Besuch in Europas grösstem Kernkraftwerk würde ihm eine unabhängige und vollständige Einschätzung der Lage erlauben, sagt er. An Grossis Ferienplänen jedenfalls würde eine solche Reise sicher nicht scheitern.
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