Desaströse Lage in der TürkeiEuropäischer Menschenrechtler lässt sich von Erdogan ehren
Robert Ragnar Spano, Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg, soll in Istanbul einen Ehrendoktortitel erhalten. Die türkische Opposition ist empört.
Der Türkei-Besuch eines der wichtigsten europäischen Menschenrechtsjuristen, der mit einem Doktorhut der Universität Istanbul geehrt werden soll, hat zu einem Aufschrei bei Opposition und Intellektuellen geführt. Robert Ragnar Spano, Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, ist in Ankara von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan empfangen worden. Vor angehenden Richtern und Staatsanwälten sollte er in der «Gerechtigkeitsakademie» eine Rede über Menschenrechte halten sowie einen Ehrendoktor der Universität Istanbul entgegennehmen.
Angesichts der desaströsen Menschenrechtslage kritisierten türkische Oppositionelle in scharfen Worten schon vor Spanos Ankunft, dass der Isländer sich als EGMR-Präsident mit dem juristischen Doktortitel eines Landes ehren lasse, in dem keine Rechtsstaatlichkeit herrsche. Er solle stattdessen die Menschenrechtslage bei seinem Treffen mit Erdogan zur Sprache bringen.
Zehntausende Beamte entlassen
Nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs 2016 waren Zehntausende Armeeangehörige, Beamte und Publizisten unter vage formulierten Terrorvorwürfen inhaftiert oder aus ihren Ämtern entlassen worden. Auch die Meinungsfreiheit wird immer stärker eingeschränkt. Inzwischen betrifft dies nicht nur klassische Medien, auch die sozialen Medien sollen kontrolliert werden. Auch Rechtsanwälte fühlen sich in ihrer berufsständischen Unabhängigkeit beschnitten, seit die Zulassung alternativer Anwaltskammern gestattet worden ist.
Zudem werden frei gewählte Vertreter der prokurdischen Oppositionspartei HDP häufig von ihren Bürgermeisterposten abgesetzt. Der HDP-Politiker Selahattin Demirtaş sitzt seit 2016 in U-Haft. Der HDP-Co-Vorsitzende Mithat Sancar schrieb in einem offenen Brief an EGMR-Präsident Spano, die Menschenrechtslage habe sich in den vergangenen Jahren «kontinuierlich und systematisch verschlechtert». Europäische Institutionen hätten festgestellt, dass «die türkische Regierung offen gegen die Prinzipien verstösst, auf denen der Europarat und der EGMR ruhen».
60’000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Strassburg
Die Kritik an Spano teilte auch Wirtschaftswissenschaftler Mehmet Altan, der fast drei Jahre in Haft sass. Er schrieb in einem offenen Brief, dem EGMR lägen 60’000 Fälle von Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen in der Türkei vor. Das Land stehe damit hinter Russland an vorderster Stelle. Der Volkswirt hatte 27 Jahre lang an der Istanbuler Universität gelehrt. Er sass wegen angeblicher Verwicklung in Putsch- und Terroraktivitäten bis 2019 im Gefängnis, seine Professur wurde ihm entzogen. Der EGMR hatte das Verfahren gegen ihn als unrechtmässig beurteilt.
Altan schrieb weiter: «Ich weiss nicht, wie stolz Sie darauf sein wollen, Ehrendoktor einer Universität zu sein, die Hunderte Wissenschaftler mit falschen Behauptungen vom Lehrbetrieb ausgeschlossen und in Arbeitslosigkeit und Armut gezwungen hat.» Er frage sich, wie Spano die Ehrung überhaupt in Erwägung ziehen könne, wenn ein Teil der in der Türkei abgeurteilten Wissenschaftler «höchstwahrscheinlich eben diesen Gerichtshof demnächst anrufen wird».
Hungertod einer Anwältin
Aufsehen hatte jüngst der Hungertod der Anwältin Ebru Timtik erregt. Sie war als Verteidigerin von Mitgliedern einer linken Untergrundgruppe wegen Terrorvorwürfen verurteilt worden. Aus Protest war sie in den Hungerstreik getreten; sie verstarb nach 238 Tagen. Aytac Ünsal, ein ebenfalls wegen Terrorvorwürfen verurteilter Anwalt, hungert seit 212 Tagen. Sein Zustand ist nach Angaben des Vaters lebensbedrohlich.
Nachdem jüngst ein Plakat mit dem Foto der verstorbenen Anwältin an der Fassade der Istanbuler Anwaltskammer aufgehängt worden war, drohte Präsident Erdogan der Anwaltschaft. Wer im Verdacht stehe, Verbindungen zu Terrororganisationen zu haben, müsse mit Berufsverbot rechnen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.