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Meinung

Essay zum Kant-Jahr
Die Welt ist keine Ansichts­sache

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Sie gehören zu den berühmtesten Sätzen der Philosophiegeschichte: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.»

Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich am 22. April 2024 zum 300. Mal jährt, hat sich neben seinen anspruchsvollen philosophischen Schriften zur Erkenntnistheorie, Anthropologie oder Ethik immer wieder mit zeitgenössischen Themen auseinandergesetzt. So veröffentlichte er 1784 in der wissenschaftlichen Zeitschrift «Berlinische Monatsschrift» einen Aufsatz zur viel diskutierten Frage «Was ist Aufklärung?».

Wer damals Rang und Namen hatte, beteiligte sich an dieser Debatte: Gotthold Ephraim Lessing und Christoph Martin Wieland, Moses Mendelssohn und Friedrich Schiller. Kant, den einige bewundernd, andere abschätzig den «Alleszermalmer» nannten, befeuerte die Debatte mit seinen messerscharfen Argumenten wie kein anderer – bis in unsere Zeit. Doch was heisst Selberdenken im Zeitalter der sozialen Medien?

Ein mündiger Mensch entscheidet und urteilt nicht unter dem Einfluss von kantschen «Vormündern», sondern macht sich sein eigenes Bild und zieht Schlüsse daraus. Sein Denkvermögen lässt er sich weder von klerikalen noch staatlichen Autoritäten beschneiden. Auch wenn die Freiheit, selbst zu denken, angeboren ist, so muss sie dennoch zum Leben erweckt werden: Der Mensch muss sich quasi zur Freiheit befreien.

Dass Selbstdenken besser ist als Fremddenken, liegt auf der Hand. Doch kann ich mir sicher sein, dass meine Ansichten wirklich auf eigenen Urteilen beruhen und nicht auf jenen anderer? Hier beginnen die Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage, was Aufklärung ist.

Im Stahlbad der Vernunft

Bin ich mündiger als mein Nachbar, der an Verschwörungstheorien glaubt? Während ich sein Weltbild mitleidig belächle, neige ich selbst dazu, die Beschränktheit meiner eigenen Sichtweise auszublenden. Leben wir beide nicht einfach in zwei verschiedenen «Bubbles», die ihr je eigenes Existenzrecht haben?

dpatopbilder - 23.11.2023, Nordrhein-Westfalen, Bonn: Das Bild «Immanuel Kant am Schreibtisch» aus dem Jahr 1872 von Johannes Haydeck spiegelt sich in der Vitrine, in dem eine Ausgabe der «Kritik der reinen Vernunft» ausgestellt wird. Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant im kommenden Jahr stellt die Bundeskunsthalle vom 24. November bis 17. März 2024 den Philosophen der Aufklärung in einer Ausstellung vor. «Immanuel Kant und die offenen Fragen» präsentiert die Biografie des Denkers (1724-1804). Foto: Federico Gambarini/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über die Ausstellung +++ dpa-Bildfunk +++ (KEYSTONE/DPA/Federico Gambarini)

Während Kulturrelativisten beide Seiten zu verstehen suchen, sieht Immanuel Kant in der Rationalität einen unbestechlichen Richter. Was Anspruch auf allgemeinere Gültigkeit erhebt, muss sich im Stahlbad der Vernunft bewähren. Den höchsten Ausdruck solcher Wertbeständigkeit haben naturwissenschaftliche Gesetze. Die Rückkoppelung des philosophischen Denkens, auch der Moral, an die Logik ist für Kant daher unabdingbar. Er selbst hat den Austausch mit der Physik und der Mathematik stets gesucht und auf diesen Gebieten bedeutende Beiträge publiziert.

Auch wenn es wohl keine gänzlich vorurteilsfreien Meinungen und Handlungen gibt, so lässt sich etwa ihre moralische Integrität daran messen, ob sie als allgemeine Maximen taugen würden. Tun sie es, so sind sie solchen Ansichten überlegen, die sich darum foutieren und sich selbst genügen.

Das Internet, Schatzkammer des Wissens und Lautsprecher der Meinungen zugleich, kann «alles und nichts sagen», wie Eva Menasse ihr neues Buch über die digitale Moderne betitelt. Von den Rezipienten hängt es ab, welches Angebot sie annehmen wollen.

Lassen sie sich durch Leben führen von Influencern, in denen der Kant-Biograf Marcus Willaschek eine neue Form von «Vormündern» sieht? Folgen sie Verschwörungstheoretikern, die den Mund etwas voll nehmen? Oder aber arbeiten sie sich am gesammelten Material ab, um zu einer möglichst eigenständigen Position vorzudringen? 

Portrait of Immanuel Kant (1724-1804), 1768. Private Collection. Artist Frisch, Johann Christoph (1738-1815). (Photo by Fine Art Images/Heritage Images via Getty Images)

Da die Welt logischen und damit beschreibbaren Ursachen gehorcht, ist sie alles andere als Ansichtssache. Zum mündigen Bürger gehört daher ausser dem Mut zur eigenen Meinung der Wille, diese im Wettbewerb der besseren Argumente zu vertreten. Wer dabei unterliegt, ist kein Opfer, sondern um eine Erkenntnis reicher.

Im Unterschied zu blossen Privatmeinungen sind Ansichten, die von vielen geteilt werden, konsensfähiger. Sie dienen schliesslich als Grundlage, auf der die Gesetze – mithin das Recht – beruhen, denen sich die Mehrheit einer demokratischen Gesellschaft freiwillig fügt.

Auf diesen Aspekt des «Radikalen Universalismus» weist Omri Boehm in seinem gleichnamigen Buch hin. Der deutsch-israelische Philosoph, der an der New School für Social Research in New York lehrt, stellt das universalistische Projekt der Aufklärung dem grassierenden Identitätsdenken unserer Gegenwart gegenüber: Während dieses die Gesellschaft spalte, vereine Kants universeller Humanismus.

Immanuel Kant ging es letztlich um den Weltbürger (auch wenn sich dieser als durch und durch vernünftiger Europäer entpuppen sollte). Der sei bereit, sich aus Einsicht in die Notwendigkeit selbst gegebenen Gesetzen zu unterwerfen. Freiheit zeigt sich also nicht zuletzt in der Fähigkeit zur Befolgung von als richtig erachteten Regeln.

Willkür und Destruktivität einhegen

Die allgemeine Anerkennung des Rechts garantiert die Freiheit der Individuen. Selbst die unterschiedlichen Religionen, die sich in ihrem Ausschliesslichkeits­anspruch bis aufs Blut bekämpfen, werden sich, so der Königsberger Denker, dereinst in einer Vernunftreligion zusammenfinden.

Nicht nur die weitverbreitete Unmündigkeit, auch Kriege vereiteln das hehre Ziel einer Fortentwicklung des Menschen. Der Friede sei, so Kant in seinem bekannten Aufsatz «Zum ewigen Frieden» von 1795, deshalb ein so hohes Gut, weil nur er es erlaube, Willkür und Destruktivität einzuhegen und damit die Menschenrechte verlässlich zu schützen.

Da das Ende des 18. Jahrhunderts von Kriegswirren überschattet war, antwortete Kant auf die von ihm selbst gestellte Frage, ob er in einem aufgeklärten Zeitalter lebe: «Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.»

Wie wir?