Migrationspolitik der EUEs gibt Zweifel an Rechtmässigkeit des Tunesien-Deals
Um die Flüchtlingszahlen zu senken, setzt Brüssel auf Verträge mit Ländern am Mittelmeer. Das Abkommen mit Tunis soll die Vorlage dafür sein. Doch juristisch ist die Sache nicht klar.
Als das «Team Europe» in Tunis das Abkommen feierte, auf dem so grosse Hoffnungen liegen, irrten wenige Hundert Kilometer entfernt Geflüchtete durch die Wüste. Sie seien aus der Hafenstadt Sfax vertrieben und über die Grenze nach Libyen geschickt worden, berichteten Nachrichtenagenturen und verbreiteten Bilder von Menschen, die durch den Sand stapften, erschöpft und kaum versorgt mit Wasser oder Nahrung, bei Temperaturen um die 50 Grad. Hunderte sollen es gewesen sein. Unter den Vertriebenen waren Kinder, auch Säuglinge, und längst nicht alle überlebten diese Tortur. Das Bild einer Mutter und ihrer Tochter, die verdurstet im Wüstensand lagen, wurde zum Symbol für die Migrationspolitik des tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed.
Aus der Sicht der EU ist Tunesien ein strategischer Partner in Migrationsfragen, einstweilen gar der wichtigste. Am vergangenen 16. Juli sassen EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische Noch-Premier Mark Rutte und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Tunis mit Präsident Saïed zusammen, um einen Deal zu schliessen, der ein «umfassendes Partnerschaftspaket» begründen soll.
«Team Europe ist zurück in Tunis», twitterte von der Leyen über den zweiten Besuch binnen fünf Wochen. Der Deal mit Tunesien sieht Wirtschaftshilfen vor und eine Zusammenarbeit in Bereichen wie Luftverkehr, Handel und Energiewende. Das Abkommen zielt darauf ab, das wirtschaftlich angeschlagene Land langfristig zu stabilisieren und damit Fluchtursachen zu bekämpfen. (Lesen Sie zum Thema auch die Analyse «Europa muss dafür sorgen, dass das Sterben aufhört» und den Kommentar «Schmutziger Deal der EU mit Tunesien».)
Italien gilt als treibende Kraft hinter dem Abkommen
Mehr als 100 Millionen Euro wurden aber sofort gezahlt, damit die tunesischen Behörden den Schleusern das Handwerk legen und damit irreguläre Migration Richtung Europa verhindern. Auch die Rückführung von irregulären Migranten, die sich in Tunesien aufhalten, in ihre afrikanischen Herkunftsländer ist Teil des Abkommens. Die EU-Kommission erklärt, sie dränge gegenüber den tunesischen Behörden darauf, dass bei diesen Abschiebungen keine Grausamkeiten mehr begangen würden wie im Juli an der libyschen Grenze.
Giorgia Meloni gilt als treibende Kraft hinter dem Abkommen, denn vor allem aus Tunesien kam die grosse Zahl von Flüchtlingen, mit denen Italien sich in diesem Jahr konfrontiert sieht.
Die Vereinbarung mit Tunesien in dieser Form hätte wohl gar nicht unterzeichnet werden dürfen – aus formellen Gründen.
«Wir wollen beim Grenzschutz zusammenarbeiten, beim Kampf gegen Schmuggler, bei der Rückkehr, dem Kampf gegen Fluchtursachen», sagte von der Leyen in Tunis. «In vollem Respekt des Völkerrechts.» Das Abkommen mit Tunesien könnte, so heisst in der EU, als Vorbild für Verträge mit anderen nordafrikanischen Staaten dienen, zunächst mit Marokko und vor allem mit Ägypten. Dem Land droht, ähnlich wie Tunesien, eine verheerende Schuldenkrise. In der EU fürchtet man deshalb wirtschaftliche Verwerfungen, die noch mehr Menschen in die Flucht treiben.
Allerdings hätte die Vereinbarung mit Tunesien in dieser Form wohl gar nicht unterzeichnet werden dürfen – aus formellen Gründen. Sie ist möglicherweise sogar nichtig, weil der Rat der EU-Mitgliedsstaaten vorher nicht offiziell damit befasst wurde.
Entsprechend gross war die Aufregung wenige Tage nach der zweiten Tunis-Reise. Am 19. Juli trafen sich die ständigen Vertreter der EU-Staaten zu turnusgemässen Sitzungen. Das Vorgehen der EU-Kommission und der Verzicht auf offizielle Verfahren seien absolut inakzeptabel, hiess es aus Diplomatenkreisen in Brüssel. Ein Dutzend Mitgliedsstaaten, darunter Frankreich und Deutschland, schlossen sich der Kritik an.
Die EU-Kommission hätte die offiziellen Verfahren für nicht bindende Instrumente beachten müssen. Diese sehen vor, dass der EU-Rat vor Unterzeichnung solcher Abkommen zustimmen muss. Weil das unterblieb, hat die Kommission womöglich ihre Kompetenzen überschritten und gegen den EU-Vertrag verstossen. Der Rat gestalte «das auswärtige Handeln der Union entsprechend den strategischen Vorgaben des Europäischen Rates», heisst es im EU-Vertrag. Eine Sprecherin des EU-Rates wollte sich auf Anfrage nicht äussern.
Das «Memorandum of Understanding» – eine Absichtserklärung, aus der rechtsverbindliche Vorgaben für die EU noch folgen sollen – haben Tunesiens Aussenminister Mounir Ben Rjiba und EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi unterschrieben, Letzterer im Namen der EU. Und während die Kommission den Rat zwar auf dem Laufenden hielt, waren die Mitgliedsstaaten mit dem Abkommen nicht offiziell befasst, bevor das «Team Europe» wieder nach Tunis flog. «Wir haben erst kurz zuvor von dieser Reise erfahren», sagt ein Diplomat.
Man muss ein paar Jahre zurückschauen, um zu verstehen, warum das problematisch ist. Es war im Herbst 2013, als die damalige Kommission schon einmal in ähnlicher Weise den Rat überging. Damals war Kroatien gerade EU-Mitglied geworden. Und die Kommission schloss eine Zusatzvereinbarung mit der Schweiz ab, die mit den Jahren eine Reihe von Abkommen mit der EU geschlossen hatte, etwa 2006 im Zuge der ersten Osterweiterung hinsichtlich finanzieller Beiträge für die neuen EU-Mitglieder. Als Kroatien dazukam, sollten Schweizer Gelder auch nach Zagreb fliessen – und die Kommission unterzeichnete eine Vereinbarung darüber mit den Eidgenossen.
Klares Urteil des Europäischen Gerichtshofs
Daraufhin verklagte der EU-Rat die EU-Kommission – und bekam recht. Das entsprechende Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Juli 2016 fiel deutlich aus: «Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kommission im Rahmen der ihr eingeräumten Befugnis zur Vertretung nach aussen ermächtigt war», heisst es in den Leitsätzen, «eine nicht bindende, aus Verhandlungen mit einem Drittstaat hervorgegangene Vereinbarung zu unterzeichnen.» Dass der Inhalt einer solchen Vereinbarung «dem vom Rat erteilten Verhandlungsmandat» entspreche, reiche nicht aus, damit die Kommission einen solchen nicht bindenden Rechtsakt ohne vorherige Genehmigung des Rates unterzeichnen dürfe. Der Beschluss sei nichtig.
Als Folge des Urteils verpflichteten sich Kommission, Rat und der Auswärtige Dienst der EU auf gemeinsame Vorschriften. Vor der Unterzeichnung oder Annahme einer nicht bindenden Vereinbarung «muss der Verhandlungsführer dem Rat den Entwurf des Rechtsakts zusammen mit einem Begleitschreiben übermitteln», heisst es in dem einschlägigen Dokument von Dezember 2017. Das müsse mindestens fünf Wochen vor der Unterzeichnung passieren, «ausser in hinreichend begründeten dringenden Fällen».
«Mit Ägypten darf das nicht mehr so laufen», sagt ein diplomatischer Vertreter eines grossen EU-Staats.
Ist das EU-Abkommen mit Tunesien besonders dringend? Fest steht, dass die Kommission es unbedingt noch vor der Sommerpause unterzeichnen wollte. Auch Meloni und Rutte, die schon beim EU-Gipfel im letzten Februar die entscheidenden Vermittler waren, damit die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten eine gemeinsame Sprache zum Thema Migration fanden, hatten es eilig. Eindeutig ist auch die Gipfel-Erklärung aus dem Juni: Der Europäische Rat begrüsse die Verhandlungen mit Tunesien, heisst es darin. Es sei wichtig, vergleichbare strategische Partnerschaften mit Ländern der Region zu entwickeln.
Gemäss der Urteilslage und der im EU-Rat vorgebrachten Kritik reicht das aber wohl nicht aus. «Mit Ägypten darf das nicht mehr so laufen», sagt ein diplomatischer Vertreter eines grossen EU-Staats mit Blick auf das nächste Land, das die EU-Kommission im Blick hat. Im Rat sollen Vertreter der Kommission Besserung gelobt haben. Die Mitgliedsstaaten «wurden von der Kommission während des gesamten Prozesses über den Stand der Verhandlungen über die Absichtserklärung vor deren Unterzeichnung informiert», teilte eine Sprecherin auf Anfrage mit. Zuerst am 19. Juli im Kreise der EU-Botschafter sowie am 20. Juli im Aussenministerrat habe man «breite Unterstützung» erfahren.
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