Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Erschöpfte Mütter sind bei uns nicht vorgesehen

Diagnose Erschöpfungsdepression: Wenn Mütter zusammenbrechen, ist es für sie und ihre Kinder in der Schweiz sehr schwierig.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Es war ein Samstagnachmittag, wie er eigentlich schöner nicht hätte sein können, auf einem idyllischen Campingplatz mit meiner Familie. Wir hatten ein verlängertes Wochenende geplant. Endlich mal ein wenig durchatmen, nachdem wir seit fast zwei Jahren keinen gemeinsamen Urlaub mehr hatten.

Es sollte ein letzter Versuch sein, uns gegen den Totalzusammenbruch aufzulehnen. Und er scheiterte kläglich. Schon nach einer Nacht war ich am Telefon mit dem Notfallpsychiater. Denn einige Tage zuvor war ich im Bahnhof Bern zusammengebrochen, vielleicht erinnern Sie sich.

Meine Depression kam für mich völlig überraschend – und ohne Vorankündigung. Dafür so heftig, dass in eben diesem Moment auf dem Campingplatz klar wurde: Es geht nicht ohne Klinikaufenthalt. So sprach ich mit dem Notfallpsychiater und hörte ihn sagen: «Und was ist mit Ihrem Baby? Wir finden doch eine ambulante Lösung für Sie! Oder einen Mutter-Kind-Platz. Es bricht mir ja das Herz, wenn ich daran denke, dass Sie ein zehn Monate altes Kind alleine lassen.» Bääämmmmm!!!!

Dieser Herr wusste praktisch nichts über mich, unsere Aufgabenverteilung zu Hause oder meinen aktuellen Zustand; er hatte mich gerade mal seit zwei Minuten in der Leitung. Und ich, die ich eh schon am Limit war? Hallo Schuldgefühle! Hallo schlechtes Gewissen! Hallo du Gefühl, als Mutter komplett versagt zu haben! Zum Glück war irgendetwas in mir stärker als jede Depression und jedes schlechte Gewissen. Ich wusste genau, dass es die einzige und beste Lösung für mich und vor allem für meine Kinder war, sofort aus dem Verkehr gezogen zu werden.

Es war das einzig Richtige

So kam es schliesslich dazu, dass ich tags darauf tränenüberströmt in Richtung Klinik fuhr und meine vierjährige Tochter und mein Baby zurückliess. Ungewiss, wie lange ich wegbleiben würde, aber sehr wohl darüber informiert, dass es mindestens sechs Wochen dauern würde. Klar, kaum eine Mutter lässt ihre Kinder freiwillig zurück. Und doch bin ich auch heute noch überzeugt, dass es das einzig Richtige war. Denn ich war definitiv nicht mehr in der Lage, auch nur ansatzweise für unsere Kinder sorgen zu können. Ich konnte ihnen nur helfen, indem ich so schnell wie möglich wieder gesund wurde.

Ausserdem: Ein Mutter-Kind-Platz ist oft Wunschdenken. Für die gesamte Deutschschweiz gibt es in etwa 30 Akutplätze in psychiatrischen Kliniken, einige wenige Plätze in Spitälern und dann noch ein paar in Mutter-Kind-Häusern, bei denen es kein psychologisches oder psychiatrisches Angebot gibt. Praktisch all diese Plätze sind ausschliesslich für Mütter mit postpartalen Depressionen gedacht, meist darf nur ein einziges Kind mit, und dies auch nur bis zum Alter von einem Jahr. Nun war erstens meine Diagnose Erschöpfungsdepression – und zweitens hätte ich nur mein Baby, nicht aber meine Tochter mitnehmen dürfen.

In Deutschland bietet die Stiftung Müttergenesungswerk Unterstützung – bei uns gibt es dieses Angebot nicht.

An diesem Punkt versagt meiner Meinung nach unser System komplett. Mütter, die an postpartalen Depressionen leiden, dringen zwar allmählich in unser Bewusstsein, sind aber noch immer ein Tabu. Dabei erkranken rund 10 bis 15 Prozent der gebärenden Frauen daran.

Überlastete Mütter sind jedoch überhaupt nicht vorgesehen. Mütter, die zusammenklappen, schon gar nicht. Dabei ist Mama- oder Eltern-Burnout nicht einfach nur ein Modewort, sondern häufige, bittere Realität. In der Schweiz gibt es keine Zahlen dazu und auch kaum Prävention. In Deutschland aber bietet die Stiftung Müttergenesungswerk seit 70 Jahren Unterstützung sowie Mutter-Kind-Kuren an. 50’000 Müttern und 70’000 Kindern wird so jährlich dank dieser Kuren geholfen, noch bevor die Mütter komplett zusammenbrechen. Bezahlt von der Krankenkasse.

Rettung via Facebook

Gäbe es auch in der Schweiz ein solches Angebot, welches mit Beratung und Kuren frühzeitig bei den überlasteten Müttern ansetzt – gut möglich, dass ich nie in der Klinik gelandet wäre. Aber nun war ich genau da. Zwei Kleinkinder zuhause, die Betreuung gerade mal für die nächsten paar Tage geregelt. Ein Mann, der mehr als nur Vollzeit arbeiten musste und Grosseltern, die nicht in der Lage waren, unsere Kinder 24/7 für die nächsten zwei Monate zu betreuen. Wohin also mit den Kindern? Ich fühlte mich ohnmächtig und mit dieser Frage komplett allein gelassen.

Weder die Sozialarbeiterin der Klinik noch sonst wer wusste Rat. Die Rettung war schliesslich ein Hilfeschrei auf Facebook, den eine junge Hebamme sah. Sie wollte eigentlich auf Reisen gehen, änderte ihre Pläne und zog bei uns zu Hause ein. Dieses Glück, und vor allem aber die finanziellen Mittel, diese Kosten zu berappen, haben wohl die wenigsten Familien. Und darum stehen allein schon in meinem nächsten Umfeld ganz viele Mütter, die sich über Jahre hinweg durch den Alltag kämpfen, immer kurz vor dem totalen Kollaps. Der Hausarzt verschreibt ihnen Psychopharmaka oder abhängig machende Beruhigungstabletten, ohne dies mit einer Therapie zu kombinieren. Gerade kürzlich erzählte mir eine Bekannte, ihr Arzt meinte, sie müsse eigentlich in die Klinik. Aber das gehe ja nicht, weil sie kleine Kinder zuhause habe. Also wurde nichts unternommen. Ausser eben die Medikamente.

Irgendwann einmal werde ich Verbündete suchen und eine Stiftung ins Leben rufen.

Wie kann es sein, dass Mütter in solchen Fällen komplett allein gelassen werden? Obwohl klar ist, dass sie als Hochrisikopatientinnen für Erschöpfungsdepressionen gelten? Das fehlende Angebot von Prävention über Vorsorge wie Kuren bis hin zu geeigneten stationären Therapiemassnahmen und Nachbetreuung ist hierzulande Realität.

Und was leider auch oft Realität ist: Das mangelnde Bewusstsein betreffend der Mutter-Kind-Thematik und das nötige Feingefühl bei Fachpersonen. Nachdem mir schon der Notfallpsychiater vorgeworfen hatte, dass ich meine Kinder allein lasse, setzte die Kinderpsychologin, die wir für unsere Tochter mit ins Boot geholt hatten, noch einen oben drauf. Ich war noch in der Klinik, als sie zu mir sagte: «Das ist ja absolut fahrlässig, ein zehn Monate altes Baby zuhause zu lassen.» Ich schluckte. Und weinte. Und als ich aus der Klinik kam, hab ich mir geschworen: Irgendwann einmal, wenn meine Kinder gross sind und ich wieder Zeit und Kraft habe, werde ich Verbündete suchen und eine Stiftung ins Leben rufen nach dem Vorbild des Müttergenesungswerkes. Bis dahin wünsche ich allen betroffenen Mamas ganz viel Kraft und ein gutes, starkes Umfeld.

Dieser Artikel wurde erstmals am 7. Juli 2020 publiziert und am 25. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.