Personalisierte Ernährung im SpitzensportDie Gemüsepolizei schaut ganz genau hin – macht Essen so überhaupt noch Spass?
Keine Pommes, kein Zucker und erst recht kein Alkohol: Das Spitzensportzentrum OYM geht neue Wege. Die Athleten sind begeistert.
- Im OYM werden die Ernährungsgewohnheiten der Athleten analysiert.
- Eishockey-Spieler Mike Künzle hat durch die Ernährungsumstellung seine Hauterkrankung besser im Griff.
- Das Konzept nennt sich personalisierte Ernährung.
- Die Verantwortlichen setzen auf Aufklärung statt starre Regeln.
Joëlle Flück entgeht nichts. «Etwas mehr Randensalat hättest du schöpfen können», sagt sie mit einem Augenzwinkern zum 19-jährigen EVZ-Junior Luc Bachmann, der sich gerade am Buffet sein Mittagessen zusammengestellt hat. Der Verteidiger lacht. Längst kursiert unter den Jungen der Begriff Gemüsepolizei. «Früher», sagt Christoph Schär, «war es die Mutter, die mahnte, Gemüse zu essen. Jetzt sind wir es, weil wir wollen, dass die Jungen gesund bleiben. Sie mögen Kohlenhydrate und Fleisch, aber Gemüse ist genauso wichtig.»
Flück, promovierte Sport- und Ernährungswissenschaftlerin, und Executive Chef Schär betreuen im Spitzensportzentrum OYM in Cham rund 150 Athletinnen und Athleten aus elf Sportarten. Zu den grössten Gruppen zählen die Schweizer Handball-Academy, die Unihockey-Teams von Zug United sowie die Eishockey-Spielerinnen und -Spieler des EVZ. Hans-Peter Strebel, Zugs Präsident, machte den Bau des 100-Millionen-Franken-Komplexes auf über 8000 Quadratmetern überhaupt erst möglich.
Im Lorzenpark, einem Industrie- und Naherholungsgebiet westlich von Zug, ist ungesundes Essen tabu. Desserts sucht man hier vergeblich. Wer seinen Kaffee mit Zucker trinken möchte, hat Pech. Süssstoffe jeder Art werden nicht angeboten. In der Küche findet man keine Fritteuse, und selbst an den rund 240 jährlich stattfindenden Tagungen, Seminaren, Generalversammlungen oder Konzerten wird kein Alkohol ausgeschenkt.
Im 2020 eröffneten OYM – der Name steht für «On your marks», auf eure Plätze – wird nichts dem Zufall überlassen. Die Zuger Eishockey-Profis werden vor der Saison nicht nur physischen Tests unterzogen, sondern durchlaufen auch ein sogenanntes Assessment. Dabei werden mit aufwendigen Messungen die Ernährungsgewohnheiten der Athleten analysiert, mögliche Mangelerscheinungen erkannt und der optimale Zeitpunkt für die individuelle Nährstoffaufnahme bestimmt – abhängig von Körperzusammensetzung, Wettkampf- oder Trainingsphase. Bei entsprechenden Anzeichen erfolgt zusätzlich ein Test auf Intoleranzen und Allergien. Das Konzept nennt sich personalisierte Ernährung.
Alle 40 Tage beginnt der Menüplan von vorn
Das Mittagsbuffet im EVZ-Trainingszentrum ist nach den Prinzipien der Lebensmittelpyramide aufgebaut und in vier Kategorien unterteilt: unterschiedliche Mengen an Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten. «Sportler haben Hunger», sagt Schär. «Deshalb starten wir das Buffet mit einer grossen Schüssel Rohkost und Gemüse, damit sie automatisch mehr davon nehmen. Erst am Ende stehen fettreichere Speisen wie Tomaten-Mozzarella-Salat.»
Die insgesamt acht Diätköche bereiten alles frisch, in Bioqualität und ohne Alkohol zu. Fleisch und Fisch stehen immer zur Auswahl, ebenso wie vegetarische und vegane Proteinquellen. Insgesamt wurden 1600 Rezepte entwickelt, darunter auch für Proteindrinks, hypotonische Getränke, Energy-Gels und Energy-Riegel. Nach 40 Tagen beginnt der Menüplan von vorn, wobei ausschliesslich saisonales Gemüse verwendet wird.
Doch bleiben bei so viel Disziplin nicht der Genuss und der Spass am Essen auf der Strecke? «Als ich hier begonnen habe, hiess es: Wenn ihr so kocht, suchen die Spieler den nächstbesten Kebab-Stand auf», gesteht Schär. «In Wahrheit hatten sie von Anfang an Spass, weil wir nicht nur gesund, sondern auch lecker kochen.» Der Küchenchef sieht darin keinen Widerspruch. «Statt Chicken Nuggets gibt es Chicken Fingers. Wir machen sie im Ofen mit einem Cornflakes-Mantel und ohne Fett – sie sind schmackhafter als das Fast-Food-Gericht. Und unsere Burritos lieben die Spieler sowieso.»
Während die Eishockey-Teams dem Gast üblicherweise das Essen bereitstellen, bringt der EVZ seine eigene Verpflegung mit. Bei Doppelrunden wird gezielt auf Kartoffeln verzichtet, da Pasta und Reis eine höhere Kohlenhydratdichte aufweisen. «Viele Spieler haben nach dem Spiel wenig Hunger», erklärt Flück. «Deshalb müssen wir darauf achten, dass sie trotzdem genügend Kohlenhydrate aufnehmen.» Im Playoff, wenn die Duelle bis nach Mitternacht dauern können, reist sogar ein Koch mit zu den Auswärtsspielen.
Wer möchte, kann alle Mahlzeiten im OYM beziehen – individuell abgestimmt und als praktische Box to go. Doch niemand ist dazu verpflichtet. «Du kannst essen, wo du willst», betont der siebenfache Meister-Goalie Leonardo Genoni. «Von aussen mag es wie ein Zwang oder eine Überwachung wirken, doch du brauchst die Ratschläge nicht zu befolgen. Sie helfen dir aber, ein besserer Athlet zu werden. Bereits nach zwei Wochen spürst du einen Unterschied. Ich bin beeindruckt.»
Künzle hat Krankheit besser im Griff
Das bestätigt auch Mike Künzle. Im Sommer wechselte der 30-Jährige von Biel nach Zug. Seit seiner Kindheit leidet er an Neurodermitis, einer chronischen, entzündlichen Hauterkrankung, die in Schüben auftritt, aber nicht ansteckend ist. Nach Rücksprache mit den Wissenschaftlern am OYM stellte Künzle seine Ernährung um: Er verzichtet jetzt auf rotes Fleisch und ernährt sich weitgehend laktosefrei. Er spürt eine deutliche Verbesserung.
«Nicht nur in Bezug auf den Juckreiz auf der Haut», sagt der Stürmer. «Viele kennen das Trägheitsgefühl nach dem Mittagessen. Ich habe es nur noch selten und fühle mich allgemein fitter und gesünder.» Kaum in Zug, notierte er seine Essensgewohnheiten und liess die Menüs von den Experten optimieren. Künzle sagt: «Oft wusste ich gar nicht, in welchen Lebensmitteln wie viele Kohlenhydrate oder Proteine stecken.»
Sowohl Flück als auch Schär geht es um Aufklärung. Die Athletinnen und Athleten sollen keine Kalorien zählen, die Mengen nicht abwägen, stattdessen aber auf ihren Körper hören. «Wir sind nicht die Bösen vom OYM», sagt Schär. «Unser Ziel», sagt Flück, «ist es, die Sportler so zu schulen, damit sie wissen, wie sie sich ein gesundes Menü zusammenstellen können, das ihren Energiebedarf deckt und gleichzeitig der Zielsetzung entspricht.»
Der Einfluss der Ernährung werde oft unterschätzt, sagt die passionierte Marathonläuferin. Sie erinnert sich an ihre Anfänge am OYM: Das Bewusstsein war kaum vorhanden. Die Zusammenarbeit mit Flück war freiwillig, die Verantwortlichen hofften auf Mundpropaganda. «Lange galt es als normal, dass Eishockey-Spieler während der Saison Muskelmasse verlieren. Doch als einige bemerkten, dass diejenigen, die mit uns arbeiteten, ihre Muskelmasse halten konnten, setzte ein Umdenken ein.»
Doch was, wenn ein Spieler einmal zu etwas Ungesundem greifen möchte? «Niemand verbietet dir, ein Bier zu trinken», sagt Genoni. «Aber es wird dir erklärt, was es mit deinem Körper macht, wenn du es unmittelbar nach einer Höchstleistung tust.» Alles sei eine Frage des Masses und des Zeitpunkts, ergänzt Flück. Kürzlich habe ein Spieler ihr anvertraut, dass er gelegentlich etwas Süsses brauche. Gemeinsam hätten sie den idealen Moment dafür festgelegt.
Schär erzählt von einer Schweizer Eishockey-Legende, die trotz der Vorliebe für Schnitzel und Pommes frites Rekord um Rekord bricht. «Bei den meisten würde das kaum funktionieren», meint er. «Ich bin überzeugt, dass jeder mehr aus sich herausholen kann, wenn er sich gesund ernährt.»
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