Analyse zur türkischen LiraErdogan führt sein Land in den wirtschaftlichen Abgrund
Der Präsident hält an seiner Tiefzinspolitik fest – mit ökonomisch desaströsen Folgen. Das untergräbt auch seine politische Autorität.
Noch mehr rhetorisches Tschingderassabum geht in der Türkei kaum. Mit seinem Kampf gegen hohe Zinsen führe er einen «ökonomischen Befreiungskrieg», sagt Staatschef Recep Tayyip Erdogan – er hatte seinen Zentralbank-Chef gerade zum erneuten Senken der Leitzinsen gezwungen und so den von allen Fachleuten vorausgesagten Währungsverfall ausgelöst: Die Lira verlor an einem einzigen Tag 15 Prozent ihres Wertes.
Und ausgerechnet dieses wirtschaftspolitische Desaster soll an die grösste Stunde der türkischen Nation erinnern? Der «Befreiungskrieg» ist immerhin die Geburtsstunde der türkischen Republik. Das Land hatte an der Seite Deutschlands den Ersten Weltkrieg verloren, die Sieger wollten das geschlagene Osmanenreich unter sich aufteilen. Aber die Türken gaben nicht klein bei, vertrieben Griechen, Briten und andere Besatzer, gründeten 1923 unter Kemal Atatürk ihre moderne Republik. Diese besteht bis heute.
Der Traum vom Billiglohnland
Auch Erdogan hat der Türkei in den 18 Jahren seiner Herrschaft seinen Stempel aufgedrückt, so wie kein anderer Politiker seit Kemal Atatürk. Jetzt aber verliert der Präsident wegen der schlechten Wirtschaftslage an Rückhalt, ist seine Wiederwahl gefährdet. Und nun bringt er das Land ökonomisch an den Abgrund. Der selbst erklärte «Zinsgegner» will die Türkei mit seiner Niedrigzinspolitik offenbar zu einer Art asiatischem Billiglohnland machen.
Die Unternehmerinnen und Unternehmer sollen mit billigen Krediten und niedrigen Löhnen zu Investitionen verlockt werden, gleichzeitig sollen ausländische Firmen ins Land geholt und so die lahmende Wirtschaft angekurbelt werden. Das sollen die Türken Erdogan 2023 an der Wahlurne danken – es ist das Jahr des Jubiläums zum 100-jährigen Bestehen der Republik.
Lässt man wirtschaftspolitische Theorien ausser Acht, könnte Erdogans Konzept die Türken überzeugen: «Wir sind entschlossen, mit unserer investitions-, produktions-, beschäftigungs- und exportorientierten Wirtschaftspolitik das Richtige für unser Land zu tun, statt uns dem Teufelskreis aus hohen Zinsen und niedrigen Wechselkursen zu ergeben.» Mit einer Turbopolitik billiger Kredite hatte der Populist die Wirtschaft schon einmal angeregt, zu Beginn seiner Herrschaft. Er hatte von 2003 an vor allem die Bauwirtschaft gepusht, die Infrastruktur ausgebaut, das Land modernisiert.
Die Opposition hat nun endlich ein Thema, mit dem sie sich als Alternative präsentieren kann.
Doch das lässt sich nicht so einfach wiederholen. Führende türkische Wirtschaftsexpertinnen und Wirtschaftsexperten warnen, dass die Bevölkerung nun eben wegen dieses Rezepts durch die steigende Inflation weiter verarmen werde, das importabhängige Land wegen der schwachen Lira seine Einfuhren nicht bezahlen und seine Auslandsschulden nicht bedienen könne. Vor allem der Verfall der Lira richtet Schaden an. Die entmachtete Zentralbank erklärte angesichts der geldpolitischen Alleingänge des Staatschefs nur noch lapidar: «Dieser Währungsverfall verläuft völlig losgelöst von den wirtschaftlichen Grunddaten.»
Zugleich macht sich Erdogan mit seiner Zinspolitik politisch angreifbar. Die Opposition hat nun endlich ein Thema, mit dem sie sich als Alternative präsentieren kann. Der Präsident wird also zügig liefern müssen, was angesichts der komplexen Wirtschaftsprozesse kaum gehen wird. Angesichts der grossen Worte vom Befreiungskrieg spottete ein Publizist: «Und was kommt als Nächstes? Der ökonomische Jihad?»
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