Wahlen in ItalienEr ist sozusagen Thurgauer – und vielleicht bald italienischer Senator
Michele Schiavone setzt sich seit Jahrzehnten für seine emigrierten Landsleute ein. Nun kandidiert der Ex-Banker aus Tägerwilen für den italienischen Senat. «»
Worüber nerven sich ausgewanderte Italienerinnen und Italiener am meisten? Was treibt sie um? Solche Fragen beschäftigen Michele Schiavone, wohnhaft im thurgauischen Tägerwilen, seit 35 Jahren. So lange nämlich engagiert sich der ehemalige Wertschriftenhändler der Credit Suisse für seine emigrierten Landsleute, in Vereinen zur Förderung sportlicher, kultureller und sozialer Aktivitäten.
Und nun will er für den sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) jenen Sitz erobern, der im italienischen Senat einem Vertreter der europäischen Diaspora zusteht. Weltweit sind es vier Senatssitze, für jeden Kontinent einer.
Manchmal spricht er mit Gegnern
Schiavone beantwortet die Frage nach dem grössten Ärgernis für Ausgewanderte telefonisch aus Luxemburg, wo er gleich einen Auftritt absolvieren wird: dass Italiens konsularische Dienste in vielen Ländern schlecht funktionieren und es mühsam sei, einen neuen Pass oder andere Dokumente zu erhalten. Seine Wahlkampftour führt den 62-jährigen Apulier, der als junger Mann in den Thurgau emigriert ist, auch nach Holland, Frankreich, Belgien und Spanien. Dort erwarten ihn jeweils ein vom PD oder einer Auswandererorganisation gemietetes oder geführtes Lokal und ein überwiegend sozialdemokratisch gesinntes Publikum.
«Ab und zu kommt auch jemand von der Gegenseite», sagt Schiavone. Dann sei er etwa mit der Frage konfrontiert, warum es in Italien auch unter den linken Regierungen nicht wirklich besser geworden sei. Was er, Schiavone, natürlich anders sehe.
Emigrierte Italienerinnen und Italiener wählen häufiger links.
Rund 2,5 Millionen im europäischen Ausland lebende Italienerinnen und Italiener sind bei den Wahlen vom 25. September stimmberechtigt, in der Schweiz sind es rund 400’000. Obwohl Umfragen der rechten Koalition einen Erdrutschsieg prophezeien, stehen die Chancen laut Schiavone nicht schlecht, dass es bald einen sozialdemokratischen italienischen Auslandssenator aus Tägerwilen geben wird. Denn die Emigrierten wählen traditionellerweise deutlich linker als die Daheimgebliebenen. Ausserdem sei er dank seiner langjährigen Tätigkeit in Auswandererorganisationen bekannter als die meisten der 11 Politiker, die europaweit ebenfalls um den Senatssitz kämpfen. Eine Frau ist nicht darunter. Schiavone ist auch Mitglied des «Rats für Auslandsitaliener», einem in Rom tagenden Parlament unter dem Vorsitz des Aussenministers.
Gewinnt in Italien die rechtskonservative Koalition und wird Giorgia Meloni als erste Frau Regierungschefin, würden die Rechte von Frauen, Homosexuellen und Einwanderern beschnitten – davon ist Schiavone überzeugt. Mitverantwortlich sei aber auch das unüberwindbare Übel der Linken: der Egoismus und die Divenhaftigkeit ihrer Exponenten, die ewige Zerstrittenheit.
Ein hartes Leben
Nach mehr als 40 Jahren in der Schweiz, sagt Schiavone, fühle er sich als Schweizer – obwohl er sich nie einbürgern liess. Seine Eltern waren vor ihm emigriert, er blieb zunächst in Italien, weil es den sogenannten Saisonniers damals verboten war, ihre Familie nachzuziehen. «Wegen der bereichernden italienischen Lebenskunst bin ich auch Italiener geblieben.»
Setzt er sich gegen seine Konkurrenten durch, bedeutet dies: am Montagmorgen zum Flughafen, die erste Maschine nach Rom, Tätigkeit als Senator, Rückflug am Donnerstagabend oder Freitagmorgen. Und an vielen Wochenenden Besuche in anderen Teilen Europas, in Norddeutschland, Rumänien oder sonst wo. Ein aufreibendes Leben. «Ich glaube, es wäre den Aufwand wert», sagt Schiavone.
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