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Abtretender «Vogue»-Chef
Er ist die Antithese zu Anna Wintour

Als «Vogue»-Chefredaktor warf er viele Konventionen über den Haufen: Edward Enninful im Mai dieses Jahres am Filmfestival in Cannes. 
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Die «New York Times» und andere Kommentatoren sahen ihn bereits als Nachfolger der legendären Anna Wintour: Seit 2017 war Edward Enninful Chefredaktor der britischen «Vogue», unter seiner Führung wurde das etwas angestaubte Modemagazin nahbarer und inklusiver. Er könnte dereinst, hiess es, die Wintour beerben, seit 35 Jahren Chefredaktorin der US-«Vogue» und eine Eminenz im Verlag Condé Nast. Obwohl Edward Enninful das exakte Gegenstück zu Anna Wintour ist: dunkelhäutig, homosexuell, migrantisch. Er war der erste männliche nichtweisse Chefredaktor in der Geschichte der britischen «Vogue».

Aus dieser Rolle, jener des Fremdlings im Establishment, zog Enninful seine Stärke als Chefredaktor. Sein erstes «Vogue»-Cover im Dezember 2017 zeigte Model und Aktivistin Adwoa Aboah, Tochter einer Angehörigen der britischen Aristokratie und eines Einwanderers aus Ghana. Er wolle das moderne Grossbritannien widerspiegeln, sagte Enninful später, «eine multikulturelle Gesellschaft». Das Heft wurde ein Coup.

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In den Jahren danach inszenierte Enninful ein ums andere Mal Menschen, die man sich zuvor kaum auf einer «Vogue»-Titelseite hatte vorstellen können: Im Mai 2020 wurde Schauspielerin Judi Dench mit 85 Jahren ältestes Covermodel, kurz danach zierten während der Pandemie eine Zugführerin, eine Hebamme und eine Supermarktangestellte in ihrer jeweiligen Arbeitskleidung das Heft. Letzten Oktober war mit Shootingstar Timothée Chalamet der erste Mann auf Seite eins, die Mai-Ausgabe dieses Jahres widmete sich Menschen mit einer Behinderung und war in Blindenschrift produziert. Er sei mit dieser Strategie so erfolgreich, sagte Enninful dem «Guardian» diesen Frühling, dass er es sich leisten könne, regelmässig namhafte Werbekunden abzulehnen, die ihm nicht genügend inklusiv seien. 

Gross war darum die Überraschung, als Anfang Juni bekannt wurde, dass Edward Enninful seinen Posten nach nur sechs Jahren abgibt (zum Vergleich: seine Vorgängerin Alexandra Shulman machte den Job 25 Jahre lang). Er werde innerhalb des Verlags Condé Nast in einer neuen Funktion beratend für die «Vogue» tätig bleiben – das lässt sich auch als «wegbefördert» übersetzen. Seine Nachfolge ist noch nicht bestimmt.

Zwei «Vogue»-Alphatiere: Edward Enninful und Anna Wintour an einer Gala in New York Anfang 2020. 

Die Interpretationen dieser Personalie gehen auseinander. Während etwa der «Guardian» spekulierte, Enninful bringe sich mit seinem Rückzug aus dem Tagesgeschäft in Stellung für die Nachfolge von Anna Wintour, wollen andere einen Kulturkampf erkennen: Unter Enninful sei die «Vogue» zu politisch korrekt geworden, er habe zudem Gerüchten zufolge das Magazin geschlechtsneutral gestalten wollen. 

Shootings, Partys, Selbstzweifel

Seinen Aufstieg vom Migranten zum Modefürsten hat der heute 51-Jährige letztes Jahr in seiner Autobiografie «A Visible Man» festgehalten. Geboren wird Edward Enninful 1972 als fünftes von sechs Kindern einer Mittelstandsfamilie in Ghana. Er wächst in einer Militärbasis nahe der Hauptstadt Accra auf, sein Vater ist Major in der ghanaischen Armee. Enninful beschreibt sich als schüchternes, verträumtes Kind, das Stunden im Nähatelier der Mutter verbringt. Sie lehrt ihn ein Gespür für Farben, Formen, Stoffe. Sein Vater aber, von militärischer Strenge, lehnt seine Begeisterung für Mode ebenso ab wie seine Homosexualität. 

Kindheit in Ghana: Edward Enninful (rechts halb stehend neben dem Vater) im Jahr 1980 mit seiner Familie.  

Als er ein Teenager ist, verschlechtert sich die Sicherheitslage in Ghana und die Familie emigriert nach London. Genauer nach Ladbroke Grove in Westlondon, das in den Achtzigern eine ähnlich abgeranzte Coolness versprüht wie das East Village in New York City oder später Kreuzberg in Berlin. Kulturen, Farben, Nationalitäten, Styles – alles im Überfluss vorhanden, und der junge Edward saugt alles auf. Eines Tages wird er in der Metro angesprochen und bekommt einen Modeljob für das Modeheft «i-D» angeboten. Es ist sein Einstieg in die Branche, rasch macht er sich bei Shootings und auf der Redaktion unentbehrlich, und mit nur 18 Jahren übernimmt er die modische Leitung des Magazins.

Seine Karriere ist lanciert. Es folgen Aufträge als Stylist für Calvin Klein in New York und Dolce & Gabbana in Mailand, für die US-Ausgabe der «Vogue», und er tritt ein in die Kreise der Kreativen. Barbecues mit der jungen Kate Moss, Partys mit Naomi Campbell. Es sind seine «workaholic 90s», ein einziger Rausch aus Shootings, Langstreckenflügen, durchgefeierten Nächten. Seine Selbstzweifel und die Schüchternheit beginnt er mit Drogen zu dämpfen, vor allem der Alkohol fliesst reichlich. Bis er eines Tages um die Jahrtausendwende einen kalten Entzug macht, «mit allem aufhört, ausser mit Zigaretten» und zu seiner ersten Sitzung mit den Anonymen Alkoholikern geht. In dieser Zeit kommt er zum zweiten Mal mit seiner grossen Liebe Alec Maxwell zusammen, mittlerweile sind sie seit 20 Jahren ein Paar und haben 2022 geheiratet. 

Langjährige Partnerschaft: Edward Enninful und sein Ehemann Alec Maxwell 2022 an der Met Gala in New York City. 

Als Enninful 2017 ins Chefbüro der britischen «Vogue» einzieht, ist das Magazin Selbstreferenz weisser Mittel- und Oberschichtsfrauen geworden, der «posh girls» Londons. Er bricht nicht nur dieses Uniforme auf, sondern stellt auch implizite Selbstverständlichkeiten auf den Kopf, etwa die Gewohnheit, an dunkelhäutigen Models knallige Sommermode zu zeigen und die aparten, modischen Stücke der Wintersaison weissen Mannequins vorzuenthalten. 

Enninful hat jenen Instinkt für gesellschaftliche Trends, den Anna Wintour in der Vergangenheit immer wieder vermissen liess. Mit der rigiden Arbeitskultur, die unter ihr immer noch herrschen soll, oder mit ihrer unverhohlenen Vorliebe für den klassisch westlichen, dünnen Frauentyp wirkt sie mittlerweile wie ein Fossil. Bisher hat ihr das nicht geschadet, zuletzt konnte die 73-Jährige ihren Einfluss im Verlag gar ausweiten. Vielleicht ist das Fazit mancher Kommentatoren darum nicht ganz falsch, wenn sie von einem Machtkampf der beiden «Vogue»-Alphatiere sprechen, den Wintour noch einmal gewonnen habe. 

Mit Naomi Campbell (links) und Kate Moss verbindet Edward Enninful eine langjährige Freundschaft. Hier an einer Party 2014 in London. 

Wie Enninful in seiner Autobiografie aber mehrfach anklingen lässt, beschäftigt ihn nichts so sehr wie seine Angst vor der beruflichen und gesellschaftlichen Unsichtbarkeit, weil sie für ihn einer Selbstauflösung gleichkommt. Er braucht, so scheint es, die Blicke der anderen, um sich lebendig zu fühlen. Für ihn bedeutete das stets: sich in die Arbeit stürzen, keine Stille zulassen, auch um die Versagensängste nicht zu spüren.

Im Buchtitel «A Visible Man» scheint die Befriedigung darüber anzuklingen, dass die Welt auf ihn blickt. Enninful wird alles tun, um in der Modewelt sichtbar zu bleiben.