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Folgen des Brexit
Englands Garten verkommt zur Toilette

Bereits früher stauten sich die Lastwagen hier, doch jetzt steht die Grafschaft Kent vor der grossen Überlastung: LKW auf der M20 im Jahr 2015. 
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Kent war immer stolz auf die Bezeichnung «Garten von England». Anders als der industrielle Norden sah sich die Grafschaft im englischen Südosten auf der Sonnenseite der Nation. Obst-Plantagen, Hopfen-Felder und schön gepflegte Rosengärten galten als Inbegriff der Region zwischen den Ausläufern Londons und den Kreidefelsen von Dover, obwohl es natürlich auch in Kent stets lukratives Gewerbe gab.

In diesem Winter aber fallen gleich zwei Schatten auf die Südostecke der Britischen Inseln. Der eine ist der des Virus. Kent verfügt über eine Reihe Covid-«Hotspots». Zur Empörung all jener Teile der Region, die wenig Fälle verzeichnen, ist die gesamte Grafschaft von der Regierung in die Stufe 3, die höchste Gefahren-Stufe, eingeordnet worden. Während im benachbarten London diese Woche Restaurants, Pubs und sogar Sportplätze wieder öffnen dürfen, muss sich Kent weiter an striktere Regeln halten.

In der Kolonne ohne Ausweichmöglichkeiten

Der zweite Schatten, der auf Kent fällt, könnte der Region freilich sehr viel länger zu schaffen machen. Wer die M20 hinunterfährt, die Haupt-Autobahn von London nach Dover, bekommt einen Vorgeschmack auf das, was Kent in Kürze erwartet. Versetzbare Beton-Barrieren zur Regulierung des Verkehrsflusses werden in aller Eile installiert. Dort, wo gearbeitet wird, ist die M20 tagelang gesperrt, der Verkehr wird auf kleine Landstrassen umgeleitet. In einem solchen Stau kann man stundenlang festsitzen. Ausweichmöglichkeiten gibt es nicht.

In den kleinen Weilern, durch die man sich zwischen schweren Lastwagen im Schritt-Tempo vorwärtsbewegt, stehen vor den Häusern kopfschüttelnde Menschen. Sie würden gern nur tun, was ihnen noch erlaubt ist – im Hernewell Farmshop ihren Weihnachtsbaum kaufen oder bei Spar in West Malling einen Truthahn bestellen. Stattdessen können sie kaum die Strasse überqueren wegen der endlosen Autokolonne mitten im Ort.

Grund für den Umstand ist natürlich das Ausscheiden Grossbritanniens aus Binnenmarkt und Zollunion der EU zum Jahresende – und die Ungewissheit, ob es noch zu einem Deal mit den Europäern kommt. Selbst wenn das der Fall wäre, würden neue Grenzkontrollen erforderlich. Die Folgen wären lange Lastwagen-Schlangen auf dem Weg hinunter zum Eurotunnel in Folkestone oder zum Fährhafen von Dover.

8 Kilometer Stau bei Probelauf

Im schlimmsten Fall, hat der für Brexit-Vorbereitungen zuständige Minister Michael Gove eingeräumt, müsse man mit einem «täglichen Stau von 7000 Lastwagen» rechnen. 12’000 rollen jeden Tag Richtung Ärmelkanal. Die Ungewissheit hat die Regierung zu einer Reihe von Notmassnahmen wie den Betonbarrieren entlang der M20 veranlasst. Schon ein Probelauf neuer Grenzkontrollen durch französische Grenzbeamte in Folkestone und Dover vor wenigen Tagen hat binnen weniger Stunden einen 8-Kilometer-Stau produziert.

Um eine Totalverstopfung der grossen Handels-Arterie zum Kontinent zu vermeiden, hat sich Minister Gove jüngst einen «Passierschein für Kent» ausgedacht, der helfen soll, die Zoll-Abfertigung zu beschleunigen. Spediteure aus dem ganzen Königreich sollen gezwungen sein, all die künftig benötigten Zoll-Dokumente schon vor der Abfahrt zusammenzustellen. Ohne Passierschein durch Kent zu fahren, wird ab Januar strafbar. Diese Massnahme hat bittere Kommentare ausgelöst. Offenbar, spotten Brexit-Gegner, beginne die Abgrenzung von Europa jetzt Grenzen im Vereinigten Königreich selbst nach sich zu ziehen. Nicht nur hätten Boris Johnsons Brexiteers Kontrollen zwischen Grossbritannien und Nordirland akzeptiert, an denen laut Austrittsvertrag die EU beteiligt werden müsse. Nun solle es gar Grenzen innerhalb Englands geben: Kent werde zum polizeilich überwachten Sondersektor an der Front zur EU.

Fahrer müssen gegebenenfalls tagelang pausieren, bis sie grünes Licht zur Weiterfahrt erhalten.

Besorgnis im «Garten von England» haben unterdessen auch andere Notstandspläne ausgelöst. Sollte der Rückstau gefährliche Ausmasse annehmen und andere Strassen und Städte – wie die alte Kathedralenstadt Canterbury – blockieren, werden Lastwagen von London aus entlang der Nordküste Kents zu einem abgelegenen Gelände dirigiert, so der Plan. Dort müssten die Fahrer gegebenenfalls ein paar Tage pausieren, bis sie grünes Licht zur Weiterfahrt ins 30 Kilometer entfernte Dover erhalten.

Schon in den letzten Jahren, als die Verhandlungen mit der EU immer wieder zu scheitern drohten, hatte die Regierung dieses spezielle Gelände in Reserve gehalten. Beim Gelände handelt es sich um den ausgedienten Provinz-Flughafen von Manston, der sich noch immer stolz mit dem Namen «Kent International Airport» schmückt. Seit sechs Jahren hat sich hier nichts mehr getan. Die Eingangsportale des Flughafengebäudes sind fest verschlossen. Die Parkplätze, auf denen einst Fluggäste ihre Wagen abstellten, sind leer und verlassen. Noch ist auch der Zugang zu den Start- und Landebahnen verrammelt. Ein Wachmann, der aus seinem Häuschen ans Tor kommt, darf sich «leider nicht äussern» zu dem, was geplant ist.

4000 LKW, notfalls auch mehr, soll der Platz temporär aufnehmen können: Lastwagen am Flughafen in Kent. 

Dabei markiert ein Schild mit einem Lastwagen und dem Wort «Dover» klar sichtbar die Einfahrt zum Gelände. Drinnen hat man rot-weisse Warnhütchen aufgestellt, um den Lastwagen den Weg zu den Stellplätzen zu weisen. 4000 LKW, notfalls auch mehr, soll der Platz aufnehmen können. «Unzumutbar» sei so etwas schon mal für die Fahrer. Sollte es zum Beispiel einen Covid-Ausbruch im «Brexit Lorry Park» von Manston geben, wäre Hilfe kaum möglich, warnen Kommunalpolitiker.

Vor allem fürchten die Ortsansässigen aber, dass ein endloser Zug von Lastwagen auf der teils einspurigen Fahrbahn von Manston nach Dover ihnen das Leben zur Hölle machen würde. Krankenwagen, die die Strasse in der Tat regelmässig mit Blaulicht abfahren, kämen dann nicht mehr durch. Schulwege wären versperrt, und der Weg zur Arbeit und zum Einkaufen mit dem Auto würde unmöglich. Die für Manston zuständigen Bezirksräte seien «nie für diese Art von Nutzung des Flughafens» gewesen, schimpft der Rats-Vorsitzende Rick Everitt. Die Heimlichtuerei der Regierung habe jede Planung auf Bezirksebene verhindert. Man drohe »unter die Räder» zu kommen.

Auch unten in Dover – das 2016 zu 62 Prozent für den Austritt aus der EU stimmte – fürchtet man die Folgen des «harten Brexit», der nun so oder so kommt, mit oder ohne Deal. Passanten auf Dovers zentraler Biggin Street, die sich ins Gespräch ziehen lassen, bereuen entweder, dass es so weit gekommen ist, oder stellen sich trotzig und glauben, dass das «gar nicht so schlimm» sein wird. Ausgerechnet in der Hafenstadt, die die wichtigste Fährverbindung zum Kontinent bildet, sind die anti-europäischen Instinkte stark geblieben: hier die Realität eines intensiven Handelsverkehrs mit Europa, dort das Bedürfnis nach Abschottung kombiniert mit einem Gefühl nationaler Überlegenheit.

Nicht weit von Folkestone erinnert das Denkmal zur «Battle of Britain» an heldenhafte Luftschlachten über Kent, mit denen man sich vor achtzig Jahren den Feind vom Hals hielt. Nun wächst die Angst, dass Lastwagen-Fahrer aller Länder den «Garten von England» auf viel prosaischere Art zugrunde richten könnten. Schon jetzt, nach den ersten Staus, mehren sich Berichte, dass auf Parkplätzen und an Strassenrändern zunehmend urin-gefüllte Flaschen und Plastikbeutel mit Exkrementen gefunden werden. Im Zuge ihrer Eilmassnahmen hat die Regierung die Aufstellung mobiler Klos versprochen. Eine Anti-Brexit-Protestgruppe unter der Leitung des Geschäftsmanns Peter Cook hat zu Wochenbeginn die traditionellen Schilder, die Besucher Kents auf Zufahrtsstrassen im «Garten von England» willkommen heissen, mit Aufklebern ironisch verändert. «Willkommen in Kent, der Toilette von England» heisst es dort nun. «Das wird doch alles nur noch viel schlimmer werden», warnt Cooks Gruppe. «Die Leute hier haben schon jetzt die Schnauze voll.»

Mit Sicherheit haben auch Brexit-Wähler nicht erwartet, was sich einmal abspielen würde auf ihren Strassen. Typisch für das Dilemma, in dem sich Englands Südosten so kurz vorm endgültigen Brexit findet, ist ein winziger ländlicher Flecken nahe der M20, der London-Dover-Achse, gleich hinter der Stadt Ashford. In der Nachbarschaft der 900 Jahre alten Kirche von Sevington, mit ihren verwitterten Grabsteinen, den friedlich grasenden Pferden hinterm Zaun und den krächzenden Krähen über den Bäumen, liegt eine Reihe kleiner, fast vergessener Farmen. Hier und da ist am Eingang zum Garten der Union Jack aufgezogen. Oder die Fahne Englands, mit dem St.-Georgs-Kreuz. Dies war immer fruchtbares Brexit-Land. Hier wollte man sich bewahren, was man für England hielt. Wollte die Idylle schützen.

Eine gigantische neue Zollstelle

Unmittelbar hinter den Farmhäusern und der Kirche aber wird jetzt, zum Entsetzen der Anwohner, ein riesiges Areal umgegraben, das der Staat erst diesen Sommer ohne Vorwarnung requiriert hat. Dort entsteht jetzt eine gigantische neue Zollstelle, die ihrerseits Tausende von Lastwagen auf unbegrenzte Zeit aufnehmen soll. Kräne, mächtige Bagger, Arbeiter in gelber Schutzkleidung sind auf dem Gelände im Einsatz. Die ersten Mammut-Hallen, in denen die Abfertigung stattfinden soll, zeichnen sich ab. Mitte nächsten Jahres soll das Ganze fertig sein.

Bis dahin will London Lastwagen aus der EU ohne grössere Kontrollen ins Land lassen, um Chaos wenigstens in einer Richtung zu vermeiden. Noch in letzter Minute sollen auch Extra-Abstellplätze in anderen Landesteilen geschaffen und weitere Fährhäfen als Alternativen zu Dover ausgebaut werden. Ob man so die Lage zum Jahresanfang meistern wird, kann freilich niemand sagen. Kent wird jedenfalls die erste Grafschaft sein, die den Brexit zu spüren bekommt.