Stoff-Revival in SchottlandTweed drohte zu verschwinden – bis Nike anrief
Vor nicht allzu langer Zeit stand die schottische Tweed-Industrie vor dem Aus. Dann kam ein Auftrag von Nike. Seitdem ist das Material wieder weltweit gefragt. Ein Besuch auf den Äusseren Hebriden.
Wenn Iain Martin aus dem Fenster schauen würde, könnte er seine Schafe sehen, die draussen im Gras liegen, dahinter das Meer und die Berge. Es ist ein strahlend schöner Morgen, doch er hat keinen Blick für diese Idylle, die sie hier Sleeping Beauty nennen: Schlafende Schönheit. Martin, 52 Jahre alt, kurzes graues Haar, Wollpulli, sitzt in seinem Schuppen mit dem Rücken zum Fenster. Stoisch tritt er mit dem Fuss auf ein Pedal. Klickklack. Klickklack. Es ist so laut, dass er sein eigenes Wort kaum versteht.
Klickklack, so hört es sich an, wenn Iain Martin an seinem Webstuhl arbeitet. Für ihn ist es der Sound seines Lebens. Ein Sound, der ihn an seine Kindheit erinnert, als er in klaren Winternächten den weissen Rauch aus den Kaminen steigen sah und von überall her diesen Klang hörte. Klickklack. Damals hatte jeder Nachbar einen Webstuhl, um diesen besonderen Stoff aus grober Schurwolle herzustellen, der nicht nur wärmt, sondern vor allem Geld bringt: Tweed.
Heute gibt es um Martin herum nicht mehr viele, die dieses Handwerk beherrschen. Er lebt auf Lewis and Harris, einer schottischen Insel, die zu den Äusseren Hebriden gehört. Ende der 1960er-Jahre waren hier mehr als 1300 Tweed-Weber registriert, jetzt sind es nur noch 229. Die Vorfahren von Iain Martin waren 1741 auf der Insel gelandet, an einem Ort, dessen gälischer Name für Fremde nicht ganz einfach auszusprechen ist: Airidh a’ Bhruaich. Dort webt Martin nun in vierter Generation. Und zwar mit einem Webstuhl aus dem Jahr 1926, an dem er schon seinem Grossvater bei der Arbeit zuschauen durfte.
«Das Warten lohnt sich»
Normalerweise webt Iain Martin drei Meter Stoff in der Stunde. Je nachdem, wie gut es läuft, kommt er in einer Woche auf 100 bis 150 Meter. Bevor er mit dem Weben beginnt, spannt er das Garn ein, das er auf kleine Spindeln aufgerollt hat. Martin kann sechs verschiedene Garne auf einmal verarbeiten, also bis zu sechs Farben. Herauskommt am Ende ein Stoff, der mal dezenter, mal auffälliger ist. Martin selbst mag es am liebsten klassisch. Er bevorzugt Herringbone, ein traditionelles Muster, dessen Zacken an Fischgräten erinnern. Sein eigenes Tweed-Jackett ist grau, mit einigen grünen und orangefarbenen Sprenkeln.
Es sind Stoffe in den Farben der Insel. Das Grün und Braun der Wiesen. Das Blau des Himmels und des Meeres. Das Grau der Felsen. Und das Orange, das Rot und das Violett der Blumen, die im Frühjahr und Sommer blühen. Früher, als es noch keine Tweed-Fabriken gab, wurde die frisch geschorene Schafswolle mit Flechten und Kräutern gefärbt. Martin hat noch Messer und Löffel zu Hause, mit denen einst gelbe, grüne und rötliche Flechten von den Felsen gekratzt wurden. Er hat sie aufgehoben und zeigt sie jetzt Kunden, die ihn besuchen.
Neulich war ein Amerikaner bei ihm, der in London arbeitet. Er habe den weiten Weg auf sich genommen, um zu sehen, wo und vor allem wie der Tweed für seinen Anzug hergestellt wird, erzählt Martin. Den Stoff brachte der Kunde dann zu einem Geschäft in der Londoner Savile Row, wo die berühmtesten Schneider des Königreichs arbeiten. Erst das Weben, dann die Massanfertigung, das dauert einige Wochen. «Das Warten lohnt sich», sagt Martin, «schliesslich besitzt man dann ein Kleidungsstück, das man das ganze Leben lang tragen kann.» Ein Tweed-Anzug sei doch etwas, das nicht so schnell aus der Mode komme. Schon gar nicht in Grossbritannien, wo der Stoff in den vergangenen Jahren wieder beliebter geworden sei.
Das liegt unter anderem an populären britischen Fernsehserien wie «Downton Abbey», die das Schicksal einer Adelsfamilie und ihres Personals am Anfang des 20. Jahrhunderts erzählt. Da ist die junge Lady, die im Tweed-Outfit auf die Jagd geht. Oder der Chauffeur mit seiner Tweed-Mütze. Auch in den Netflix-Serien «The Crown» und «Peaky Blinders» tauchen immer wieder gut angezogene Menschen in Tweed auf. Iain Martin muss schmunzeln, wenn er etwa an die BBC-Serie «Sherlock» denkt: «Sherlock Holmes und Dr. Watson mit ihren Tweed-Caps und -Mänteln, das hilft uns natürlich.»
So gut wie jetzt lief es längst nicht immer für die Weber auf den Äusseren Hebriden. Es ist noch nicht allzu lange her, da stand die Tweed-Industrie vor dem Aus. Anfang der 2000er-Jahre war das. Damals gab es kaum noch Nachfrage, Tweed galt bei vielen Jüngeren als ziemlich altbacken. Doch dann geschah etwas, das Iain Martin den «Nike-Boom» nennt. Nike, der Sportartikelkonzern aus den USA, meldete sich an einem Märztag im Jahr 2004 bei Donald John Mackay, einem Weber auf der Insel. Der Auftrag: Mackay sollte 950 Meter Tweed für die Neuauflage eines Schuhs produzieren. Kein Problem für Mackay. Dachte er jedenfalls. Doch dann stellte sich heraus, dass sich jemand bei Nike vertippt hatte: Es fehlte eine Null, der Konzern wollte 9500 Meter. Und zwar in acht Wochen. Das konnte Mackay nicht schaffen. Jedenfalls nicht allein.
Und so mobilisierte er all jene, die auf der Insel noch weben konnten. Auch Iain Martin machte mit. «Plötzlich waren wir wieder im Geschäft», erzählt er. «Wenn es John Mackay und Nike nicht gegeben hätte, wäre unsere Industrie wohl komplett ausgestorben.» Die Tweed Mill, in der damals nur an drei Tagen in der Woche Schurwolle gesponnen wurde, fuhr die Produktion auf sieben Tage hoch. Endlich hatten die Weber wieder Arbeit. Der Nike-Turnschuh «Terminator» war nur der Anfang eines neuen Tweed-Booms. Plötzlich kamen Abgesandte grosser Modehäuser aus Paris und Mailand auf die entlegene schottische Insel, um Stoff zu kaufen.
Selbständige Weber wie Iain Martin haben einen rechtlichen Anspruch darauf, dass ihr fertig gewebter Stoff von einer der Fabriken auf der Insel gewaschen wird. Das ist nötig, denn nach dem Weben befinden sich im Stoff noch Öl-Rückstände vom Webstuhl. Ganz am Ende wird dann ein Stempel aufgebügelt, der den Stoff als echten Harris Tweed auszeichnet. Das Markenzeichen besteht aus dem Malteserkreuz und dem sogenannten Orb, einem Reichsapfel. Jedes Kleidungsstück aus Harris-Tweed erhält dieses Echtheitszertifikat.
Iain Martin ist stolz auf den gesetzlich verankerten Schutz, den sein Handwerk geniesst. Im vergangenen Jahr hat er sich dazu entschieden, auch Besucher zu empfangen, die nicht unbedingt seinen Tweed kaufen wollen. Wer zu ihm will, muss von Stornoway aus die Strasse Richtung Süden nehmen und so lange fahren, bis auf der linken Seite eine mit Hand geschriebene Tafel auftaucht: «Seaforth Harris Tweed». Am Ende des Weges steht er dann, der Schuppen von Iain Martin. Im Haus nebenan hat er ein paar handgemachte Souvenirs zum Kauf auf einen Tisch gestellt: Stofftiere, Kissen und Christbaumkugeln, alles aus Tweed.
Draussen kann man dann noch einen Blick auf die Schlafende Schönheit werfen. Auf das Loch Seaforth, das sich ins Landesinnere hineinzieht. Auf die Berge dahinter, und auf gut 500 Schafe. Ob jemand seine Arbeit als Tweed-Weber fortsetzt, weiss Iain Martin nicht. Er selbst hat keine Kinder, aber seine Nichten und Neffen helfen ihm ab und zu am Wochenende. «Sie müssen entscheiden, ob sie weben wollen», sagt er. Er klingt so, als habe er Hoffnung.
Von Martins Schuppen zur Tweed-Fabrik in Shawbost fährt man mit dem Auto eine gute Dreiviertelstunde. In der Tweed Mill werden nicht nur die Stoffe der Weber gewaschen und mit dem Harris-Tweed-Logo gestempelt, von dort kommt auch das Garn, das die Weber für ihre Arbeit benötigen. Margaret Macleod, 46, dunkelblauer Tweed-Blazer, ist die Verkaufsleiterin von Harris Tweed Hebrides. So heisst die Firma, die die Fabrik betreibt. 70 Angestellte arbeiten dort, gut 100 selbständige Weber sind für die Tweed Mill tätig.
Wenn Macleod Besucher durch die Spinnerei führt, beginnt sie ganz am Anfang des Fertigungsprozesses, dort wo die angelieferte Schurwolle mit Seife gewaschen wird. Nachdem der Schmutz entfernt ist, wird sie getrocknet. Dann wird die Wolle in grossen Tanks hin- und hergewirbelt, bis sie die gewünschte Farbe hat. Die Farbrezepte sind geheim. Ein Garn besteht am Ende meist aus unterschiedlichen Farben, etwa Gelb und zwei unterschiedlichen Brauntönen. Nach und nach wird er mithilfe automatischer Maschinen gesponnen. Danach legen die Arbeiter die Garnrollen in einen Korb. Verpackt in einem Plastiksack werden sie in einem Lastwagen zu den Webern gebracht, versehen mit einem DIN-A4-Zettel, auf dem die genaue Anleitung steht, was im Auftrag der Kunden gewebt werden soll.
Normalerweise wäre Verkaufsleiterin Macleod im September bei einer Textil- und Modemesse in Paris gewesen. Doch wegen der Corona-Pandemie finden solche Veranstaltungen nur noch virtuell statt. Macleod ist stets auf der Suche nach neuen Projekten. In letzter Zeit gebe es vor allem einen Trend, sagt sie: Nachhaltigkeit. «Die Menschen wollen wissen, woher ihre Kleidung kommt und unter welchen Bedingungen sie hergestellt wird.» Dieser Wunsch sei natürlich wie gemacht für Harris Tweed, sagt Macleod. Da ist der Stempel auf dem Stoff, der dafür bürgt, dass dieser unter den gesetzlich vorgeschriebenen Bedingungen gewebt worden ist. Und da ist das Etikett, das an jedem Stück Stoff hängt, egal ob daraus eine Jacke, ein Schuh oder eine Couch gefertigt wird.
60 Prozent der Tweed-Stoffe werden exportiert, in die USA, nach Japan und in die EU. Der Rest ist für den britischen Markt bestimmt. Zurzeit macht Harris Tweed Hebrides einen Jahresumsatz von acht Millionen Pfund, umgerechnet etwa 8,85 Millionen Euro. Der grösste Stoff-Abnehmer ist Tetrad, eine britische Möbelfirma, die Sofas und Stühle aus Tweed herstellt. Einige davon stehen im Showroom der Fabrik. Macleod ist darauf bedacht, dass neben den klassischen Tweed-Jacketts auch neue Produkte entwickelt werden. Um zu zeigen, was sie meint, holt sie eine dunkelblaue Tweed-Skijacke der italienischen Herren-Modemarke Stone Island hervor. Macleod hofft, dass es trotz Corona-Pandemie und Brexit so gut weitergeht: «Wir müssen alles versuchen, um unsere Tweed-Industrie wettbewerbsfähig zu halten.»
«Die Amerikaner und Europäer bevorzugen klassische Muster. Besonders farbenfrohe Stoffe gehen nach Japan.»
Ian Mackay sieht das genauso, er sagt es nur auf seine Art: «Ich kann weben, so viel ich will – wenn das Marketing und die PR nicht stimmen, hilft mir das alles nichts.» Mackay, 50 Jahre alt, sitzt in seinem Schuppen, wenige Minuten von der Spinnerei entfernt. Anders als Iain Martin arbeitet er auf einem Webstuhl, der Anfang der 1990er-Jahre entwickelt worden ist. Er kann damit nicht nur mit mehr Farben weben, sondern auch schneller. Mackay webt, seit er 16 ist. Auch er hat das Auf und Ab der Tweed-Industrie miterlebt. Wenn es mal so richtig schlecht lief, suchte er sich Gelegenheitsjobs. Er reparierte Maschinen, arbeitete als Feuerwehrmann.
Seit gut zehn Jahren hat er das nicht mehr nötig. Er sitzt so gut wie jeden Tag an seinen Webstuhl. Er tritt dabei in die Pedale, als würde er Fahrrad fahren. Dabei sieht er fern oder liest die Zeitung. Auch Mackay liebt den Sound des Webens. Aber in seinem Schuppen ist es längst nicht so laut wie in jenem von Iain Martin, der noch immer auf dem Webstuhl aus den Zwanzigern arbeitet.
Mackay kann ziemlich genau sagen, für welches Land der Tweed bestimmt ist, den er webt: «Die Amerikaner und Europäer bevorzugen klassische Muster. Besonders farbenfrohe Stoffe gehen nach Japan.» Ein Kunde dort habe einmal ein pinkfarbenes Karomuster bestellt, erzählt Mackay und lacht. Man tritt ihm sicher nicht zu nahe, wenn man behauptet, dass er in einem pinken Tweed-Anzug eher nicht auf die Strasse gehen würde. Muss er auch nicht. Er webt ja nur.
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