Französische MinimalistenSo viel Talent, so langweiliger Fussball – doch sie sagen: «Egal»
Ohne eigenes Tor aus dem Spiel heraus haben es die Franzosen in den EM-Halbfinal geschafft. Das tut zwar fast weh beim Zuschauen, doch die Basis für einen weiteren grossen Triumph steht.
Da stand er nun und war selbstverständlich zufrieden. Wieder mal ein Sieg. Wieder mal einen grossen Gegner aus dem Weg geräumt, einen vermeintlich grossen Gegner zumindest. Wieder mal in einen Halbfinal eingezogen. Und wieder mal die Chance auf den ersten EM-Titel als Trainer gewahrt. Natürlich war Didier Deschamps in diesem Moment völlig egal, dass sein Team gegen Portugal kein Tor aus dem Spiel heraus erzielt hatte.
Im Gegenteil. Es wirkte fast ein bisschen beseelt, als der 55-Jährige nach dem Spiel sagte: «Ich bin ein Trainer, der defensiv denkt.» Und was gäbe es Schöneres für solch einen Trainer, als die zweifelhafte «Bestmarke», die seine Franzosen gerade aufgestellt haben: Die Equipe tricolore steht ohne eigenes Tor aus dem Spiel im Halbfinal gegen Spanien an diesem Dienstag (ab 21 Uhr im Ticker).
Mit einem aufreizend uninspirierten Fussball haben sich die Franzosen durch die Gruppenphase und anschliessend durch zwei K.-o.-Spiele gewunden: 1:0 gegen Österreich, 0:0 gegen die Niederlande, 1:1 gegen Polen, 1:0 gegen Belgien und zuletzt der Elfmeter-Sieg nach 120 torlosen Minuten gegen Portugal. Mehr Minimalismus geht nicht.
Erinnerungen an ein legendäres Interview
Per Mertesacker, der ehemalige deutsche Innenverteidiger, hat es vor zehn Jahren mal schön auf den Punkt gebracht. So schön wie wohl noch nie ein Spieler vor oder nach ihm. «Wat wollnse?», maulte Mertesacker einem ZDF-Reporter nach dem knappen Sieg gegen Algerien ins Mikrofon. «Wollnse ne erfolgreiche WM? Oder wollnse, dass wir ausscheiden, aber gut gespielt haben?» Danach verabschiedete sich Mertesacker für drei Tage in die Eistonne – und hielt kurz darauf den WM-Pokal in den Händen.
Eine Frage wie «Wat wollnse?» könnte die französische Sprache natürlich niemals hervorbringen, jedenfalls nicht so trocken-direkt. Doch die Aussagen der Spieler nach dem Portugal-Sieg hatten durchaus etwas Mertesacker-Haftes an sich. «Es interessiert uns nicht, ob der Sieg verdient war oder nicht», sagte Aurélien Tchouaméni. Ousmane Dembélé erklärte: «Die, die nicht zufrieden mit uns sind, sind nicht unser Problem.» Und Youssouf Fofana legte ein paar Tage später, angesprochen auf die Kritik, nach: «Das ist mir egal!»
Die Spieler und ihr Trainer verweisen auf die positiven Resultate – die sagen im Fussball bekanntlich immer die Wahrheit. Aber es ist keinem verborgen geblieben, dass Frankreich nicht so auftritt, wie sich das die meisten erwartet hatten. Das Kader hat einen geschätzten Marktwert von 1,23 Milliarden Euro – doch dafür bekommen die Fans extrem wenig geboten: ein Eigentor der Österreicher, ein Eigentor der Belgier, einen Treffer vom Elfmeterpunkt von Kylian Mbappé und zuletzt die verwandelten Elfmeter gegen Portugal.
Kylian Mbappé und seine Maske
Es ist jedenfalls kein Zufall, dass am Tag vor dem Halbfinal gegen Spanien Torhüter Mike Maignan auf der Titelseite der «L’Équipe» auftauchte. Nicht Kylian Mbappé, nicht Antoine Griezmann. Auch nicht Ousmane Dembélé, Marcus Thuram, Randal Kolo Muani, Bradley Barcola, Kingsley Coman und natürlich auch nicht Olivier Giroud, der alte Mann, der in der K.-o.-Phase noch keine Sekunde gespielt hat. Nein, Maignan war am Montag die grosse Figur.
Der 29-jährige Goalie der AC Milan wurde in Deutschland ebenfalls noch nie aus dem Spiel heraus überwunden, nur mittels Elfmeter. Das ist mindestens so beeindruckend wie die Harmlosigkeit im französischen Sturm. Maignan steht stellvertretend für die starke Defensivleistung der Franzosen. Sie ist die Basis, auf der Deschamps sein Spiel immer schon aufgebaut hat. Doch – ähnlich wie bei den Engländern – tut es beim Zuschauen fast ein bisschen weh, wie das Team sein offensives Talent ungenutzt liegen lässt.
Allen voran Mbappé, die Überfigur, steht in der Kritik. Er ist überfrachtet mit Erwartungen aus der Heimat und gehemmt von einem Nasenbeinbruch, den er im ersten Spiel erlitten hat. Gegen Portugal wurde der 25-Jährige vor dem Ende der Verlängerung ausgewechselt, nachdem er einen Ball ins Gesicht bekommen hatte. Kolo Muani sprang seinem Captain zuletzt zwar zu Hilfe und erklärte, dass man mit der Maske wirklich kaum etwas sehe. Nach dem Motto: «Lasst Kylian in Ruhe!» Aber natürlich schützt den Superstar auch das nicht.
Emmanuel Petit, Weltmeister von 1998 und Europameister von 2000, sagte vor ein paar Tagen: «Hört doch endlich auf mit der gebrochenen Nase und seiner Maske. Er soll die Maske in den Müll schmeissen! Die Nase ist gebrochen, was soll da schon passieren? Schlimmer kann es nicht werden!» Und auch sonst hat der 53-Jährige wenig Hoffnung, dass sich am Spiel der Franzosen noch etwas Grundlegendes ändert, solange der Trainer Deschamps heisst.
«Wir können nicht erwarten, dass Frankreich den Ball haben will und einen exotischen Fussball spielt», sagte er in einem Interview. «Unter Deschamps bleibt die Mannschaft hinten und überlässt dem Gegner den Ball.» Das war zu Zeiten von Petit nicht grundlegend anders – aber damals hatten die Franzosen eine Offensive, die nicht auf die Eigentore des Gegners angewiesen war. «Das fehlt uns», sagt Petit, «weil Mbappé nicht gut spielt und auch Griezmann, als Verbindung zwischen Defensive und Offensive, keine gute Form hat.»
England gegen Frankreich im Final? Bitte nicht!
Als neutraler Fussballfan muss man jedenfalls besorgt auf die letzten Spiele dieser EM blicken, zumindest dann, wenn man gerne noch ein paar Minuten attraktiven Fussball sehen will. Ein möglicher Final zwischen Frankreich und England ist jedenfalls nicht das, was man diesem Turnier als Schlusspunkt wünscht. Aber auch das ist nicht das Problem der französischen Mannschaft.
Didier Deschamps wäre es vermutlich sogar egal, wenn seine Franzosen im Halbfinal am Dienstag erneut kein eigenes Tor aus dem Spiel heraus erzielten. Zumindest dann, wenn sie gegen Spanien – das Team mit der bislang besten Offensive bei dieser EM (11 Tore) – wieder keinen Treffer zulassen. Und am Ende, trotz aller Kritik am Trainer und an dessen langweiliger Spielweise, im Final stehen würden.
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