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«Fluchtnovelle» von Thomas Strässle
Die Geschichte einer hürden­reichen Flucht aus der DDR in die Schweiz

Ausgelassenes junges Paar auf einer Wiese, Leipzig, DDR, historische Aufnahme, ca. 1974 || Modellfreigabe vorhanden
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In Kürze:
  • Thomas Strässles «Fluchtnovelle» beschreibt eine Flucht aus der DDR in die Schweiz.
  • Seine Eltern wagten dies mit nur 21 und 23 Jahren in den 1960ern.
  • Strässles Schweizer Vater plante ihre Flucht mit einem gefälschten Pass und Stempel.
  • Letztlich triumphierte die Liebe über bürokratische Hürden und Gefahr.

«… es ging alles sehr schnell, aber wir waren uns sicher …», sagt sie rund fünfzig Jahre später, und er sagt: «Obwohl wir uns kaum kannten.»

Da sind die beiden, um die es in dieser meisterhaften Novelle von Thomas Strässle geht. Bereits alte Leute und einander offensichtlich noch immer durch die Liebe verbunden, die sie damals, Mitte der Sechzigerjahre, mit 21 und 23 Jahren das Abenteuer wagen liess, das der Sohn hier erzählt.

Das Leben hat einem klugen Autor eine grossartige Geschichte geschenkt: die Geschichte einer ungewöhnlichen Flucht aus der DDR in die Schweiz auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Eine Liebes-, eine Fluchtgeschichte, eine «Fluchtnovelle», die den Tatbestand der Novelle so erklärt, wie ich es im Germanistikstudium gelernt habe: kürzer als ein Roman, länger als eine Kurzgeschichte und eine ungewöhnliche Begebenheit, ein Novum eben enthaltend. Hier: perfekt, alles stimmt. Der Anfang deutet an, in welche Richtung es geht: «Kein Körper, nur ein Kopf.»

Thomas Strässle: Fluchtnovelle. Suhrkamp, 121 S., ca. 23 Fr.

Bei Fluchten aus der DDR wurden Tunnel gegraben, Kofferräume präpariert, Ballons gebastelt – alles lebensgefährlich. Hier geschieht eine Flucht nur per Kopfarbeit, eine Idee wird umgesetzt mit Intelligenz, Akribie und Hartnäckigkeit. Der eingangs erwähnte Kopf ist einer der vielen kleinen Querverweise, die der gewiefte Erzähler legt. Es ist der Kopf von Karl Marx, ein riesiges gruseliges Denkmal, der sogenannte Nischel, in der ehemaligen Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz.

Da wohnte die Liebste, die der Schweizer Student nicht mehr aus seinem Leben lassen wollte und für die er einen Fluchtplan ertüftelte, der das DDR-System quasi von hinten aufmischte: «Man konnte das System nicht unterlaufen, indem man von innen her gegen die Mauern anrannte, die es um sich zog. (…) Man musste es aus der entgegengesetzten Richtung angehen: bei der Einreise, nicht bei der Ausreise.»

Der Erzähler gibt sich beiläufig als Sohn zu erkennen, der hier die Geschichte seiner Eltern erzählt. Man spürt seinen Stolz: Was für ein tolles Ding haben die beiden da gedreht! So gründlich der Vater damals alles geplant hat, so gründlich recherchiert der Sohn – seines Zeichens Literaturwissenschaftler und Präsident der Max-Frisch-Stiftung – die Vergangenheit und läuft alle alten Wege ab, vertieft sich in die unsägliche Amtsprosa der DDR und vermischt Recherchiertes mit Erzähltem, Amtsdeutsch mit lebender Sprache – kein sentimentales Wort, kein Abgleiten ins bewundernd Gefühlige, und doch Liebe und Bewunderung als warmer Subtext unter dem unerhörten Geschehen. Ein Buch, das – wie selten ist das! – unseren Kopf und unser Herz gleichermassen heftig erreicht.

Falscher Pass, falscher Stempel

Sie also in der DDR, er in der Schweiz, wie kriegt er sie da raus? Ein gemeinsames Leben «drüben», nein. Ein Leben ohne einander, nein. Was getan werden muss, muss also getan werden. Und wir Leser denken dauernd: Das geht doch niemals gut. Aber es geht gut, doch wie – das ist so hinreissend mitfiebernd zu lesen, dass man vor lauter Freude dauernd ausrufen möchte: Das gibts doch nicht!

Ein Staat, der seine Bürger derart stur einsperrt und mit so viel Text abschreckt – «Nichtrückkehr ist eine Verletzung der Rechtspflicht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zur Rückkehr vom jeweiligen Aufenthalt ausserhalb des Staatsgebietes …» Jaja, «vollendet ist das Verbrechen, wenn die ausgeschleuste Person sich im Ausland befindet» und natürlich «strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Versuchs». Auf der einen Seite also der strafende Staat, auf der anderen die Lebensgefahr bei der Flucht selbst.

Nichts davon schreckt diesen jungen Mann, der seine Freundin in Prag trifft, einen Schweizer Pass mit gefaktem Einreisestempel für sie dabei hat (samt Koffer mit Westklamotten, er denkt an ALLES!) und es schafft, sie als Schweizerin ausreisen zu lassen. So: Nun ist das verraten, aber das ist nur der Rahmen. Wie macht er das mit dem Pass? Wie kriegt er den Einreisestempel? Was muss sie tun, damit ihre Spur nicht zurückverfolgt werden kann? Und wie hilft der Zufall, als im letzten Moment doch noch alles aufzufliegen droht?

Unerschütterbarkeit der Liebe

Hätten wir den Zufall nicht, kämen wir ja ohnehin gar nicht durchs Leben, und diese schmale Geschichte liefert das ganze Lebensmenü: Liebe, Mut, Fantasie, Gefahr, Glück, das Gelingen. Und falls das alles doch schiefgegangen wäre, hinterlässt der korrekte Schweizer Student einen Brief an die Polizei in der Schweiz, in dem er in 14 Punkten seine redlichen Absichten versichert, alle Schritte der geplanten Flucht erklärt und lapidar unter Punkt 9 festhält: «Der Unterzeichnete hält eine Darlegung seiner Motive für unnötig.» Das Motiv ist Liebe. Nüchterner kann man die Unerschütterbarkeit dieser Liebe wohl nicht für alle Zeiten dokumentieren. Er hat nur einen Zweifel: «Wie würde die westliche Welt auf sie wirken? Würde sie ihr gefallen? Und was, wenn nicht?»

Immer wieder werde ich gefragt: Was ist ein gutes Buch? Und immer wieder sage ich: wenn die Geschichte gut ist und in einer adäquaten Sprache erzählt ist. Fehlt eins von beiden, macht es keinen Spass. Thomas Strässle erzählt eine geradezu unfassbar gute Geschichte mit allen literarischen Mitteln – Recherche, Amtsdeutsch, Erinnerung, Fantasie, verschiedenen Erzählperspektiven – so fabelhaft, dass man als Leser nur beglückt sagen kann: Genau das ist ein gutes Buch.