Elektro-CrashtestEin Mythos zerplatzt mit lautem Knall
Sind Elektroautos weniger sicher als solche mit Verbrennungsmotor? Dieser Frage ging Mercedes mit einem spektakulären Selbstversuch nach.
Gleissend hell blenden die Scheinwerfer auf. Ein Alarm ertönt, dann geht es schnell: Von einem unterirdischen Seilzug gezogen, rasen zwei dunkle Umrisse aus den entgegengesetzten Enden der riesigen Werkshalle aufeinander zu. Sie treffen sich im Zentrum des Scheinwerferlichts – es kracht ohrenbetäubend. Das kleinere Auto wird weit aus der Bahn geschleudert, Trümmerteile fliegen durch die Gegend, Kunststoffsplitter verteilen sich um die Aufprallstelle. Und dann: Stille. Das viel zu helle weisse Licht weicht der normalen Hallenbeleuchtung, seelenruhig beenden die Ingenieure ihre Arbeit. Anders als für die anwesenden Journalisten ist das für sie tägliche Routine: Hier, im Mercedes-Entwicklungszentrum in Sindelfingen bei Stuttgart, kracht es 900-mal pro Jahr. In der Regel jedoch still und leise unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
«Wir arbeiten konsequent an der Verwirklichung unserer Vision vom unfallfreien Fahren.»
Dass gerade die Medien bei diesem Crashtest anwesend sind, hat natürlich einen Grund. Denn erstmals hat ein Autohersteller vor Publikum zwei Elektroautos frontal aufeinanderprallen lassen. «Für uns ist der Schutz von Menschenleben keine Frage des Antriebssystems», sagt Entwicklungsvorstand Markus Schäfer. Und um zu beweisen, wie sicher seine E-Autos sind, lässt der Hersteller seinen Grössten auf den Kleinsten los: Der drei Tonnen schwere EQS SUV kracht mit einer Aufprallgeschwindigkeit von 112 km/h frontal auf den kleinen, 2,2 Tonnen wiegenden EQA. Beide Autos fahren also je 56 km/h und treffen sich mit einer seitlichen Überlappung von 50 Prozent. Leider ein sehr realistisches Szenario.
Der Innenraum bleibt intakt
So zerstört die beiden Autos nach dem Crash auch aussehen – die Innenräume sind bis auf die ausgelösten Airbags fast unverändert. Die Türen lassen sich problemlos öffnen, die Sitze sind an Ort und Stelle, sogar die riesige Display-Landschaft im grossen EQS SUV, dessen Glasfläche sich quer über den Innenraum zieht, ist unversehrt. Das wirkt erstaunlich, überrascht die anwesenden Ingenieure aber keineswegs. «Das Ergebnis ist genau, wie wir es vorhergesehen haben», sagt Paul Dick, der bei Mercedes die Abteilung Fahrzeugsicherheit leitet. Wichtiger aber, als was mit den Autos bei so einem Aufprall passiert, ist, wie es den Insassen danach geht. In diesem Crashtest wurden die Autos mit je zwei Dummys besetzt – so heissen die mit Sensoren vollgepackten Puppen, die seit über 60 Jahren bei solchen Tests eingesetzt werden. Heute sind das hoch entwickelte Geräte, die rund eine Million Franken kosten – pro Dummy. «Wir haben 120 davon im Einsatz, die sich in 20 unterschiedliche Typen unterscheiden», erläutert Ingenieurin Hanna Paul. Die Puppen unterscheiden sich in Grösse und Gewicht, aber auch in Geschlecht und Alter.
Die Insassen dieses Crashtests haben aller Wahrscheinlichkeit nach alles gut überstanden. «Die vier eingesetzten weiblichen und männlichen Dummys haben die biomechanischen Grenzwerte bei diesem extrem schweren Crash eingehalten», bestätigt Paul Dick. Die Ingenieure können dabei nur die Zahlen auswerten, die die Dummys liefern, und damit Berechnungen anstellen. «Jeder Mensch reagiert aber anders auf solche Kräfte, daher können wir nur von Wahrscheinlichkeiten ausgehen», sagt Hanna Paul. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Insassen bei diesem Crash ohne schwere Verletzungen davonkommen, ist jedenfalls sehr hoch. Dabei wählte Mercedes für diesen öffentlichen Test ein deutlich härteres Szenario als für die gesetzliche Zulassung erforderlich: Beim Euro-NCAP-Frontalcrash müssen die Autos nur mit 50 km/h auf einen Gegner mit 1,4 Tonnen Fahrzeuggewicht prallen.
Unterschiedliche Ausgangslage
Es ist also ein Mythos, dass Elektroautos weniger sicher sind als solche mit Verbrennungsmotor. Und wenn man genau darüber nachdenkt: Im einen ist eine Batterie verbaut, im andern ein Tank voll flüssigem Explosivstoff – dennoch bereitet vielen das Stromauto Unbehagen. Schreckensbilder von brennenden Elektroautos, wie sie etwa nach einem Crashtest eines Tesla in Zürich um die Welt gingen, sind da nicht hilfreich. Und dass die Axa-Versicherung als Veranstalterin des Tests den Brand selber gelegt hat, ohne das von Anfang an transparent zu machen, ist dabei mehr als nur irritierend.
Unterschiede gibt es aber dennoch zwischen Elektro- und Verbrennerauto, wie Sicherheitsingenieurin Julia Hinners bestätigt. «Die gilt es bei der Auslegung der Crashsicherheit zu beachten.» Die Batterie im Fahrzeugboden müsse nicht nur mit einem extrem stabilen Rahmen aus hochfestem Stahl bestmöglich geschützt werden, sie ändere auch die Lastpfade für die Aufprallenergie. Dafür hat ein Elektroauto vorne viel mehr Knautschzone, weil eben kein Motor unter der Haube steckt. Bei einem Frontaufprall kann so deutlich mehr Energie abgebaut werden. «So gewinnen wir jede Menge Raum für Sicherheit.»
Direkt nach dem eindrücklichen Crashtest in Sindelfingen machen sich die Ingenieure und die anderen Mitarbeiter an die Arbeit und räumen auf, um die 900 mal 900 Meter grosse Halle für den nächsten Crash bereit zu machen. Denn bei 900 Tests pro Jahr fallen im Schnitt pro Tag drei solche Versuche an, hinzu kommen rund 1700 Schlittentests, bei denen Prallböcke auf verschiedene Stellen der Autos knallen. Mercedes macht diese aufwendigen Tests seit Jahrzehnten, obwohl es keineswegs vorgeschrieben ist. «Sicherheit gehört zur DNA von Mercedes-Benz und ist eine unserer zentralen Verpflichtungen gegenüber allen Verkehrsteilnehmern», sagt Entwicklungsvorstand Markus Schäfer. «Wir arbeiten konsequent an der Verwirklichung unserer Vision vom unfallfreien Fahren.» Dabei wollen die Schwaben nicht nur null Verkehrstote bis 2050 erreichen. «Unser Ziel bis 2050 lautet: keine Unfälle mehr mit der Beteiligung eines Mercedes-Benz.»
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