Analyse zur SelbstversorgungEine SVP-Ansage mit Kalkül
Mit einer neuen Volksinitiative will die SVP die Schweiz beim Essen unabhängiger vom Ausland machen – auf Kosten des Naturschutzes. Es ist kein Zufall, dass sie das Begehren gerade jetzt ankündigt.
Mehr Schweiz, weniger Ausland: Die Bevölkerung soll sich in Zukunft verstärkt mit einheimischen Nahrungsmitteln versorgen. Mit einem neuen Volksbegehren will die SVP erreichen, dass der Selbstversorgungsgrad unseres Landes auf mindestens 60 Prozent netto steigt. 2019 waren es 49 Prozent. Der Netto-Selbstversorgungsgrad berücksichtigt ausschliesslich jene Nahrungsmittel, die mit einheimischen Futtermitteln produziert worden sind.
Die SVP reagiert damit auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Der Disput um Getreideexporte aus der Ukraine zeigt schonungslos auf, wie abhängig die Länder auch in der Lebensmittelversorgung von funktionierenden Lieferketten sind.
Dass die Partei ihre Initiativpläne ausgerechnet jetzt medial ankündigt, dürfte aber einen weiteren Grund haben: Am 25. September kommt die Massentierhaltungsinitiative an die Urne. Die Nutztierhaltung soll künftig mindestens den Bio-Suisse-Richtlinien von 2018 entsprechen. Bei einer Annahme der Vorlage dürfte die Zahl von Kühen, Schweinen und Hühnern in der Schweiz sinken. Bliebe der Fleischkonsum der Schweizer Bevölkerung in der Folge gleich hoch wie heute, würde künftig mehr Fleisch aus dem Ausland auf unseren Tellern landen, die Abhängigkeit von Importen würde grösser.
Bereits die Corona-Krise hat Ängste vor leeren Regalen geweckt – für das Gros der Bevölkerung ein völlig neues Gefühl. Die SVP nimmt diese Verunsicherung auf und versucht, den laufenden Abstimmungskampf in Richtung Versorgungssicherheit zu lenken – und damit weg von ökologisch-ethischen Fragen, welche die Tierhaltung aufwirft. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob ihr dies gelingen wird.
Ein spezieller Passus in der Initiative soll sicherstellen, dass die Viehwirtschaft nicht geschwächt wird.
Eine andere Frage ist, ob die SVP-Initiative – sofern sie je zur Abstimmung kommt – eine Chance haben wird. Die Bauern haben die Bevölkerung zuletzt zwar für sich gewinnen können; die Trinkwasser- sowie die Pestizidverbotsinitiative sind an der Urne klar durchgefallen. Das Nein des Stimmvolks war allerdings eine Absage an ökologische Verschärfungen. Nun aber geht es um das Gegenteil: Um die Abhängigkeit vom Ausland beim Essen zu verringern, will die SVP mehr Flächen in Ackerland umwandeln – auf Kosten jener Ökostreifen, die auf dem Landwirtschaftsland heute dem Schutz der Biodiversität dienen.
Dabei liesse sich ein höherer Selbstversorgungsgrad auch anders erreichen: mit weniger Food-Waste. Oder mit weniger Fleischproduktion, dafür mehr Anbau von Getreide und Pflanzen wie Soja oder Bohnen. Doch just das will die SVP offenbar nicht. Ein spezieller Passus in der Initiative soll sicherstellen, dass die Viehwirtschaft nicht geschwächt wird. Die Partei will so letztlich die konventionelle Landwirtschaft stärken, die in hohem Masse abhängig ist von Dünger, Pflanzenschutzmitteln und Kraftfutter.
Mehr Schweiz im Essen, dafür weniger Naturschutz? Noch lässt sich nicht seriös abschätzen, wie sich der Ukraine-Krieg und die Corona-Krise mittelfristig auf die Stimmung in der Bevölkerung und im Parlament auswirken werden. Die Frage jedenfalls, welche die SVP mit ihrer Initiative aufwirft, hat Potenzial: vor allem für Streit.
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