Neujahrsansprache von Olaf ScholzEine Mutmacher-Rede angesichts wachsender Wut auf den Strassen
Deutschlands Regierungschef beschwört den Zusammenhalt seiner Landsleute. Vor allem spricht er über Corona und ruft zum Impfen auf.
Die Botschaft soll so schnörkellos überbracht werden, wie nur ein Olaf Scholz das fertigbringt. «Bleiben wir zusammen»: Mit diesen Worten endet die erste Neujahrsansprache des neuen Bundeskanzlers, die am Silvesterabend von deutschen TV-Sendern ausgestrahlt wird, angefangen im ZDF um 19.15 Uhr.
Nach 16 Jahren Regentschaft von Angela Merkel, in der vierten Welle der weltweiten Pandemie und bei wachsender Wut auf Deutschlands Strassen hat Kanzler Scholz um Zuversicht geworben.
«Was ich überall wahrnehme, das ist eine riesige Solidarität, das ist überwältigende Hilfsbereitschaft, das ist ein neues Zusammenrücken», sagt Scholz laut einem vorab verbreiteten Manuskript. «Wir brechen auf in eine neue Zeit.» Das könnte man eine mutige Interpretation der Lage nennen.
Aufbruch ist mehr Hoffnung als Realität
Gerade mal drei Wochen ist die neue Bundesregierung im Amt, und für eine Bilanz ist es noch zu früh. Was allerdings nur schwer zu übersehen ist: Der von Scholz beschworene Aufbruch für Deutschland dürfte eher eine Hoffnung als die Realität beschreiben. Die drei Regierungsparteien gleichen bisher eher einem Gespann, das einen schwer beladenen Karren zieht, aber kaum Land gewinnt.
Scholz hat das Jahr 2022 – vielleicht gerade deshalb – mit einer Mutmacher-Rede eingeläutet. «Wir stehen am Beginn eines neuen Jahrzehnts», sagt er. Vor dem Land liege «eine Zeit, die gut wird, wenn wir sie aktiv mitgestalten».
Gemeint sind da auch Hunderttausende Helferinnen und Helfer, ob im Gesundheitswesen, beim Hochwasserschutz oder der Bundeswehr, die sich der Ausbreitung des Coronavirus entgegengestellt haben, aber auch verheerenden Fluten. «Es wurde geholfen, aufgeräumt und begonnen, wieder aufzubauen», sagt Scholz und fügt noch an: «Damit werden wir noch lange zu tun haben.»
«Bis Ende Januar wollen wir noch einmal 30 Millionen Impfungen schaffen, damit wir gewappnet sind gegen Omikron.»
Das gilt allerdings auch für die Arbeit der Ampel-Koalition, die sich als Gegenmodell zu politischer Verkrustung betrachtet. SPD, Grüne und FDP haben einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der mehr Reformehrgeiz zeigt als die Vorgängerregierungen vieler Jahre.
Erreichen der europäischen Klimaziele trotz Schuldenbremse, früherer Kohleausstieg, konsequente Menschenrechtspolitik, Bürokratieabbau, dazu ein höherer Mindestlohn und der Umbau von Industrie und Gesellschaft – «eine gigantische Aufgabe» nennt Scholz das. Auch Familie und Elternschaft will die Regierung zeitgemässer auslegen, per Gesetz. Kommt es so, wird Deutschland ein anderes Land. Aber – kommt es so?
Die ersten Regierungswochen haben andere Signale ausgesandt, und auch die Scholz’sche Neujahrsansprache lässt Euphorie eher vermissen. Das dürfte am Naturell des Redners liegen, aber auch an der hochansteckenden Virusvariante Omikron, die alle Reformvorhaben in den Hintergrund zu drängen droht. Und niemand weiss, bis wann. (Lesen Sie auch den Artikel «Es ist derzeit nicht mehr die Zeit für Partys»)
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
«Bitte nehmen Sie diese Beschränkungen sehr ernst», sagt Scholz, der zwei Drittel seiner Rede auf den verschärften Infektionsschutz und einen eindringlichen Impfappell verwendet. «Bis Ende Januar wollen wir noch einmal 30 Millionen Impfungen schaffen, damit wir gewappnet sind gegen Omikron.»
Auf Deutschlands Strassen schwillt der Lärm unterdessen an, und er richtet sich gegen ebensolche Ankündigungen. Bei Demonstrationen gegen Corona-Massnahmen mischen sich Impfängste vielerorts mit Staatsverachtung, und Neonazis mischen sich unter Esoterikerinnen und sogenannte Querdenker.
Die Aggression ist bisweilen so hoch, dass Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Donnerstag Alarm geschlagen hat. Etliche Aufmärsche würden von Rechtsextremisten unterwandert. «Denen geht es darum, wirklich unsere Demokratie zu beschädigen, die Substanz unseres Staates anzugreifen», sagte er im WDR.
Die allgemeine Impfpflicht fehlt in der Ansprache
Bundeskanzler Scholz indes findet gemäss Redemanuskript sanftere Umschreibungen für die Radikalisierung. Es gebe «unterschiedliche Meinungen», aber eine starke Gemeinschaft halte Widersprüche aus, «wenn wir Respekt voreinander haben». Die allgemeine Impfpflicht, der der Bundeskanzler noch vor kurzem Unterstützung zugesagt hatte, ist in der Neujahrsansprache mit keinem Wort erwähnt. (Lesen Sie zum Thema «Olaf Scholz bringt Impfpflicht in den Bundestag».)
Eine harte Kontroverse zur allgemeinen Impfpflicht erspart man sich vorerst. Das Thema könnte die deutsche Regierung aber bald vor eine innere Kraftprobe stellen. Bloss kein Öl ins Feuer giessen angesichts der Radikalisierung auf der Strasse, warnen die einen. Bloss nicht zurückweichen vor Einschüchterungsversuchen, raten andere, auch in der SPD.
Ähnlich sieht das Omid Nouripour, Bewerber für den Grünen-Vorsitz. «Das Ausbleiben der Impfpflicht führt dazu, dass die Grundrechte für alle eingeschränkt werden müssen, auch für die grosse Mehrheit der Geimpften.» Deshalb müsse sie kommen. Die FDP bewertet die Sache in Teilen anders. Die Debatte ist vertagt, aufs neue Jahr.
Fehler gefunden?Jetzt melden.