Corona-Welle in IndienEine Million Neuinfizierte in vier Tagen
So viele Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden wie in Indien sind weltweit noch nie verzeichnet worden. Schuld an der aufziehenden Katastrophe ist die neuste Virus-Variante. Aber nicht nur.
314’835 Neuinfektionen an einem Tag. Das ist die Zahl, auf die nicht nur Indien, sondern die Welt in den kommenden Tagen blicken wird. Es ist ein neuer trauriger Rekord. Das gilt auch für die 2104 Toten vom Dienstag. Diese Zahl ist angesichts der Ansteckungen immer noch verhältnismässig gering; und mit knapp 32 Millionen Ansteckungen insgesamt haben die USA doppelt so hohe Werte wie Indien mit 16 Millionen, und sie haben nur etwa ein Viertel so viele Einwohner wie Indien.
Dennoch ist die Lage ernst. Schuld an der aufziehenden Covid-Katastrophe in Indien ist laut Experten die Corona-Variante mit dem Namen B.1.617. Sie wurde inzwischen in vielen Ländern gesichtet, und sie trägt zwei besonders besorgniserregende Mutationen. Eine könnte dazu führen, dass der Erreger den Immunschutz, beispielsweise durch eine Impfung oder eine frühere Infektion, unterläuft. Die zweite Mutation könnte dem Virus helfen, sich rascher auszubreiten. Noch ist an B.1.617 einiges unklar, doch mehrere Regierungen haben aufgrund des rasanten Anstiegs bereits neue Restriktionen für Reisende aus Indien erlassen oder ihre Reisehinweise verschärft.
Nicht mehr genug Beatmungsgeräte
Dass die B.1.617-Version wirklich infektiöser ist als andere Virus-Varianten, würde zumindest zum Teil erklären, dass Indien nun quasi überrollt wird von der zweiten Welle. Das Gesundheitssystem steht mit einer Million neuer Patienten in vier Tagen vor dem Kollaps. Es gibt nicht mehr genug Beatmungsgeräte. Dramen, wie sie in Europa nur theoretisch diskutiert werden, werden hier real.
Auf sozialen Netzwerken liest man verzweifelte Suchanfragen nach Behandlungsmöglichkeiten, vor Spitälern bilden sich Schlangen, Privatspitäler bunkern angeblich Beatmungsgeräte. Diese Woche starben allein 22 Patienten wegen eines undichten Sauerstofftanks. Die Krematorien arbeiten rund um die Uhr.
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Dabei wurde zunächst auf sämtlichen Netzwerken, in TV-Sendern und Zeitungen über das indische Covid-Wunder berichtet: Die Ansteckungszahlen waren von 100’000 auf 10’000 täglich gefallen, warum, weiss bis heute niemand genau. Die Regierung unter Narendra Modi verkaufte es als Sieg der eigenen Strategie.
Nun wird genauer hingeschaut: Es ist wohl eine fatale Mischung aus falschen politischen Entscheidungen, geschwächtem Gesundheitssystem – und Sorglosigkeit aufgrund der guten Entwicklung, die zu der jetzigen Misere geführt hat. So konnte man in Indien nach der propagierten Sorglosigkeit wieder Massenansammlungen sehen. Volle Cricket-Stadien, aktuell die Kumbh Mela, das grosse Fest der Hindus, Wahlkampfveranstaltungen in fünf Staaten und Bauernproteste in Delhi – selten wurden dabei Masken getragen.
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Rohit Chopra, Exil-Inder und Kommunikationsprofessor an der Santa Clara University in Kalifornien, schreibt in einem wütenden Beitrag für das indische Onlinemagazin Scroll.in: «Praktisch jede Entscheidung, die Modi getroffen hat, seitdem er 2014 Premierminister wurde, war darauf ausgerichtet, die Narrative zu kontrollieren und den richtigen Eindruck zu hinterlassen.» Seine Anhänger hätten in den sozialen Netzwerken verbreitet, Modi habe die Lage unter Kontrolle gebracht, «ihm sei gelungen, woran Donald Trump, Boris Johnson und andere gescheitert seien».
Die Bevölkerung ist im Schnitt knapp 27 Jahre alt. Das erklärt die im Verhältnis geringe Sterberate.
Nun liegen die USA und Grossbritannien in den Impfkampagnen vorn, und wenn man Politik als internationalen Wettbewerb betrachtet, hat Modi nicht mehr nur ein Kommunikationsproblem. Zwar wird im grossen «Vaccine Rollout» seit Januar geimpft. Doch mittlerweile herrscht eine Impfskepsis nah am Aberglauben. Hinzu kommen Trägheit beim Maskentragen und Beschränkungsermüdung.
Einziger Vorteil: Die Bevölkerung ist im Schnitt knapp 27 Jahre alt. Das erklärt die im Verhältnis geringe Sterberate. Da aber der politische Wille nicht stark genug zu sein scheint, um das Virus mit einem kurzen, sehr harten Lockdown zu stoppen, wird es in den nächsten Wochen wohl weitere Horrorzahlen geben.
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