Proteste in IndienDie Bauern wollen Delhi lahmlegen
Existenzängste treiben Zehntausende indische Bauern zum Protest in der indischen Hauptstadt. Nun haben sie zu einem Generalstreik aufgerufen.
Über den Verkehr in Delhi zu sprechen, ist wie woanders über das Wetter zu sprechen. Es gibt zähfliessenden Verkehr, Stop and Go und Dauerstau in der Rushhour. Aber dass eine Totalblockade alles lahmlegt, ist auch für die Einwohner der indischen Hauptstadt nicht alltäglich. Es kann allerdings sein, dass sie sich daran gewöhnen müssen. Die Bauern, die seit etwa zwei Wochen gegen die Regierung demonstrieren, haben am Dienstag einen «Bharat Bandh» ausgerufen, am ehesten mit «Generalstreik» zu übersetzen. Als «Bandh» bezeichnet man einen Akt des zivilen Ungehorsams, «Bharat» ist eine alte Bezeichnung für Indien. Der Bharat Bandh gilt im Grunde für alle Inder, die grossen Gewerkschaften sind dazu aufgerufen, sich an dem landesweiten Protest zu beteiligen. Und viele folgten diesem Aufruf am Dienstag.
Auslöser sind drei neue Gesetze, mit denen die Bharatiya Janata Party (BJP), die das «Bharat» ebenfalls im Namen trägt, den Agrarmarkt liberalisieren möchte. Bislang griff der Staat ein, wenn es um die Preisgestaltung und Lagerung von landwirtschaftlichen Produkten ging. Nun sollen die etwa 150 Millionen Bauern, die es in Indien gibt, ihre Geschäfte selber regeln. Die Bauern fürchten, dass sie dadurch Opfer grosser Handelsketten werden, die sie gegeneinander ausspielen und die Preise drücken könnten.
So schnell geben die Bauern nicht auf
Am vorvergangenen Wochenende arbeiteten sich die Bauern aus den Bundesstaaten, die an Delhi grenzen, bis zu den Barrikaden vor, die die Polizei der Hauptstadt an Brücken und Zufahrtsstrassen errichtet hatte. Zunächst hielt die Polizei die Protestierenden mit Tränengas und Wasserwerfern in Schach, doch als der Druck zu gross wurde, liess die Polizei die zehntausenden Protestierenden in die Stadt und leitete sie in den Nirankari-Park, wo sie campieren und verhandeln sollten. Es wurde gestritten, aber Ergebnisse wurden keine erzielt. Die Bauern sind bislang friedlich, aber sie haben Proviant mitgebracht, um sich in Delhi und an den Grenzen notfalls für Monate einrichten zu können.
Die Situation ist verfahren. Nach einer Woche der Verhandlungen zwischen den Bauernführern und Vertretern der BJP wurden die Gespräche am vergangenen Wochenende abgebrochen. Die Bauern fordern von der Regierung, die neue Regelung wieder einzukassieren. Die BJP will nicht zurückweichen in ihrem Vorhaben, einzelne stark regulierte Märkte im Land zu liberalisieren, auch um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.
Vor einigen Wochen erst wurde die grösste weltweite Handelszone RCEP gegründet, die etwa ein Drittel der Weltwirtschaft umfasst – allerdings ohne indische Beteiligung. Als Hauptgrund, warum man aus den RCEP-Verhandlungen ausgestiegen sei, nannte Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar der «Hindustan Times», dass man die eigenen Märkte nicht unkontrolliert öffnen wolle: «Dieser Vereinbarung beizutreten, hätte unmittelbar negative Auswirkungen gehabt.»
Die indische Wirtschaft ist durch ein ganzes Bündel von Gesetzen vor Eingriffen ausländischer Investoren geschützt, andererseits werden diese Regelungen immer wieder als Hemmschuh für die Entwicklung des Landes angeprangert. Die Landwirtschaft spielt in Indien eine besondere Rolle, weil etwa 60 Prozent der Inder von ihr abhängen und sie etwa 15 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes erzielt. Unter den 150 Millionen Bauern sind viele, die nur ein paar Quadratmeter Land bewirtschaften und kaum überleben können.
Die Bahngewerkschaften solidarisieren sich
Zum Bharat Bandh nun solidarisierten sich die beiden grossen Bahngewerkschaften «All India Railwaymen’s Federation» und «National Federation of Indian Railwaymen» – die staatliche Eisenbahn ist nicht nur legendär langsam, sondern auch der grösste Arbeitgeber des riesigen Landes. Die Gewerkschaft der Banken wiederum hat sich dem Generalstreik nicht angeschlossen. Auch die Taxis in der Hauptstadt fahren weiter oder stehen eben im Stau, obwohl ihre Gewerkschaft die Bauern unterstützt.
Viele Branchen sind vom wirtschaftlichen Rückgang durch die Corona-Pandemie ohnehin schon heftig gebeutelt. Das wirtschaftlich lange Zeit aufstrebende Indien muss in diesem Jahr eine Rezession durchstehen, im dritten Quartal sank das Bruttosozialprodukt noch einmal um 7,5 Prozent.
Rahul Gandhi, Urenkel des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru, und vermutlich bald wieder Vorsitzender der oppositionellen Kongresspartei, hat sich früh auf die Seite der Bauern geschlagen. Vijay Rupani, der Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat und ein Vertrauter von Premierminister Narendra Modi, machte sich deswegen am Dienstag über Rahul Gandhi lustig: «Der kann doch nicht mal den Unterschied zwischen Koriander und Bockshornklee benennen.» Die Proteste der Bauern werden nun zunehmend parteipolitisch ausgeschlachtet.
Fehler gefunden?Jetzt melden.