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Tamedia-Umfrage zur Schweizer Neutralität
Eine Mehrheit möchte mit der EU militärisch zusammenarbeiten

Stärker gemeinsam: Eine Mehrheit spricht sich für eine militärische  Zusammenarbeit mit der EU aus.
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Das Volk steht mit überwältigendem Mehr hinter der Ukraine-Politik Bundesrats: Drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer begrüssen, dass sich die Schweiz vollumfänglich an den Sanktionen der EU gegen Russland beteiligt. Nur für ein Viertel ist die Neutralität «nicht verhandelbar».

Zudem befürworten fast drei Viertel, dass sich Schweizer Firmen aus Geschäften mit Russland zurückziehen. Das zeigt eine repräsentative Online-Umfrage von Tamedia und «20 Minuten» mit rund 12’000 ausgewerteten Teilnahmen.

Überraschend möchte das Volk bei der Landesverteidigung sogar noch einen Schritt weitergehen und eine internationale Zusammenarbeit anstreben: Zwar lehnen zwei Drittel einen Beitritt zum westlichen Verteidigungsbündnis Nato ab. Aber eine Mehrheit von 52 Prozent ist überzeugt, die Schweiz solle sich an der Europäischen Verteidigungsunion beteiligen.

Im Projekt einer EU-Verteidigungsunion – offizielle Bezeichnung: Pesco – engagieren sich die Mitgliedsstaaten für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die nationalen Armeen sollen dank vergleichbarer Strukturen zusammenarbeiten können. Kampfflugzeuge, Panzer und andere Waffen sollen gemeinsam beschafft oder sogar in enger Zusammenarbeit selbst entwickelt werden. Das Fernziel ist die Gründung einer europäischen Armee auf Augenhöhe mit den US-Streitkräften.

Die deutliche Absage an die strikte Neutralität und die Bereitschaft, mit der EU sogar militärisch zusammenzuarbeiten, überraschen: «Putins Krieg verschiebt die politischen Parameter, international, aber auch in der Schweiz», sagt der Politologe Fabio Wasserfallen. Er hat mit seinem Kollegen Lucas Leemann die Umfrage durchgeführt und ist Professor für Europapolitik an der Universität Bern.

Abschied vom Sonderfall

Wasserfallen interpretiert die Ergebnisse so: Die Schweizerinnen und Schweizer sähen ihr Land nicht länger vor allem als singulären Sonderfall, sondern mitten in Europa verankert. Die überzeugte Übernahme der EU-Sanktionen stärke das Bewusstsein einer gemeinsamen Werte- und Schicksalsgemeinschaft. «Die Vision der Schweiz als Singapur, mit dem primären Ziel, weltweit gute Geschäfte zu machen, ist in den Augen der meisten Schweizerinnen und Schweizer überholt», sagt Wasserfallen.

«Für die Bevölkerung sind nicht primär staatstheoretische Souveränitätsfragen entscheidend»: Fabio Wasserfallen, Professor für Europapolitik.

Dass sogar eine militärische Zusammenarbeit mit der EU für eine knappe Mehrheit infrage kommt, sieht Wasserfallen als Symptom für eine Verschiebung der Werte: «Für die Bevölkerung sind nicht primär staatstheoretische Souveränitätsfragen entscheidend.»

Fremde Richter, automatische Rechtsübernahme oder immerwährende Neutralität hätten für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger weniger Gewicht als gemeinhin angenommen. «Es ist den Menschen wichtiger, dass die Schweiz ihre Interessen verfolgen kann, auch mit Kooperation.» Dafür seien sie bereit, selbst in sensiblen Bereichen wie Migration und Landesverteidigung mit der EU zusammenzuarbeiten.

In Deutschland hat Putins Einmarsch in die Ukraine zu einem fundamentalen Richtungswechsel in der Politik geführt: Der sozialdemokratische Bundeskanzler kündigte eine Aufrüstung mit 100 Milliarden Euro an, der grüne Wirtschaftsminister verhandelt mit dem Emirat Katar über Gaslieferungen, der liberale Finanzminister will die Staatsausgaben erhöhen.

Aufgrund der Umfrageergebnisse sieht Fabio Wasserfallen auch Potenzial für eine politische Zäsur in der Schweiz. Sofern das Volk dabei den Takt vorgibt, sollte es in die Richtung einer pragmatischen und engen Beziehung mit der EU gehen, welche eine grosse Mehrheit fordert, während die offizielle EU-Politik aber in einer Sackgasse stecke. 

«Vielleicht sieht der Bundesrat in dieser Zeitenwende die Chance, die Schweizer EU-Politik vom Kleinklein zu befreien», sagt Wasserfallen. In der Bevölkerung gebe es durchaus Unterstützung für «eine zukunftsfähige, erweiterte und vertiefte Beziehung mit der EU».

Härtetest Abstimmung

Wie weit sich das Volk dann allerdings hinter eine Annäherung an die EU stellt, wird sich nicht in Umfragen, sondern in Abstimmungen zeigen. Im Juni steht ein nächster Test an: Die Schweiz entscheidet, ob sie sich am Ausbau der EU-Grenzschutzorganisation Frontex beteiligt.