TV-Kritik «Tatort»Eine Kommissarin stirbt – und wir sind verliebt
Meret Becker gibt ihre Rolle als Berliner Ermittlerin auf und wird darum im neuen, fesselnden «Tatort» auf Speed aus der Sendung dramatisch hinausgetötet.
Die Berliner «Tatort»-Crew hat seit 2015 bis zur aktuellen Folge «Das Mädchen, das allein nach Haus’ geht» 15 Fälle gelöst, und, zugegeben, manchmal hat ihr Vibe genervt. «Edgy» hatte man sein wollen, kantig und unkonventionell, fiebrig, mit Hauptstadtflair. Gern erzählte man über etliche Folgen hinweg die Familien- und Sexgeschichten der Ermittlerfiguren Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke), derweil im Hintergrund diverse mafiöse Plots brodelten.
Man war stolz darauf, mit Karow den ersten bisexuellen «Tatort»-Kommissar auf die Piste zu schicken, der wilde Bilder von Männerbeischlaf lieferte – ein Novum im Sonntagskrimi. Inzwischen haben Rubin und Karow längst eine anstrengend unverbindliche Affäre miteinander; Rubin blieb trotzdem beim «Sie», Karow nicht. Dieses belastend unfassbare Beziehungs-Etwas ist ein wesentlicher Treiber in «Das Mädchen …».
«Gefühle sind was für hässliche Menschen», sagt Karow. «Wer keine eigenen Kinder hat, bleibt in Sachen Liebe immer Amateur», kontert Rubin, Mutter zweier Söhne. Überhaupt wurde der Film zur grossartigen Abschiedsvorstellung von Meret Becker! Diese hatte 2019 ihren Aufbruch zu neuen Ufern angekündigt (vor kurzem verliess schon Anna Schudt den «Tatort» Dortmund). Nun gibt ihre Kommissarin im dramatischen Finale das Leben für eine unmögliche Liebe hin – und wir sind geradezu verliebt in sie, sind bewegt und betrübt.
Doch, «Polizeiruf 110»-Routinier Günter Schütter hat für den «Tatort» ein tolles Buch geschrieben, das noch einmal die Leitmotive der Berliner engführt: Liebesnöte und Mafiagewalt. Der Film zeigt, wie schwierig es ist, im kalten 21. Jahrhundert, in dem jede und jeder ständig auf einem Selbstoptimierungstrip ist, Verlässlichkeit zu erleben. Seelenpanzer walzen privates Glück kaputt, mafiöse Strukturen machen den Einzelnen zur Marionette, Ausstieg lebensgefährlich. Misstrauen blüht überall.
Das Luxusweibchen eines russischen Mafiachefs – geheimnis- und kraftvoll: Bella Dayne – wendet sich an Nina Rubin, will auspacken. Diese entwickelt ein nicht nur professionelles Interesse an der Informantin und versucht alles, um die Frau in einem Zeugenschutzprogramm unterzubringen.
Der vietnamesisch-deutsche preisgekrönte Regisseur und Kameramann Ngo The Chau übersetzt diesen Thriller in eine Bildsprache auf Speed. Im nachtschwarzen Berlin flirren die Lichter. Auch im Club, wo sich Rubin und die schöne Aussteigerin heimlich treffen und einander im Wirbel des Tanzes den Kopf verdrehen, verwischen im Schummerrot die Konturen. Nichts lässt sich festhalten. Kurze Schwenks wie der auf die Totengalerie des Kommissariats sind Unkenrufe. Nichts in diesem nervös zuckenden Bilderstrom ist Zufall.
Der Wettlauf gegen den Mafiaboss jagt unseren Puls nach oben, es geht durch eine verwirrende Flughafenarchitektur, Lüftungsschächte, neblige Flugfelder. Adieu, Nina. Neue «Tatort»-Kommissarin wird Corinna Harfouch.
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