Interview über Pestizidzulassung«Ein Viertel der Studien wurde nie eingereicht»
Mehrere Hersteller, darunter Syngenta und Bayer, haben Daten über Risiken ihrer Pflanzenschutzmittel bei der EU-Zulassungsbehörde zurückgehalten. Das zeigt eine von SRF bekannt gemachte Untersuchung – deren Autor gibt hier Auskunft.
Das Pflanzenschutzmittel Abamectin von Syngenta kann in der Schweiz im Freiland unter anderem bei Stangensellerie, Zwiebeln und Lauch oder im Gewächshaus bei Auberginen, Gurken und Tomaten eingesetzt werden. Gemäss Angaben des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) kann es auch bei Erdbeeren und Birnen zum Einsatz kommen. Um es jedoch als Schädlingsbekämpfungsmittel zu verwenden, gibt es jeweils genaue Handlungsanweisungen, um Mensch und Umwelt zu schützen.
Im Frühling hat die Europäische Union die Zulassung für Abamectin erneuert, allerdings die Anwendung nochmals eingeschränkt. Der Grund: Die EU-Behörden hatten neue Kenntnisse, dass es bei Ratten eine verzögerte Entwicklung der Sexualorgane gibt.
Die Schweiz prüft derzeit, ob sie diese Verschärfung übernimmt, wie SRF nun berichtet. Die wissenschaftliche Untersuchung dazu sowie auch anderer Pestizide hat der Chemiker Axel Mie von der Universität Stockholm jetzt auch im Wissenschaftsmagazin «Environmental Health» publiziert. Dieser Zeitung beantwortet er die drängensten Fragen.
Herr Mie, wie sind Sie auf die Missstände bei der Zulassung der Pflanzenschutzmittel gekommen?
Eigentlich bin ich eher darüber gestolpert. Letztes Jahr habe ich in einem wissenschaftlichen Artikel eine Liste der US-Umweltschutzbehörde von Studien zur Entwicklungs-Neurotoxizität (DNT) gesehen, wo auch der Wirkstoff Glyphosat Trimesium von Syngenta mit dabei war. Der Sache bin ich dann nachgegangen und habe festgestellt, dass das Unternehmen diese Studie in Europa nie eingereicht hatte. Als ich noch eine zweite und dritte Studie gefunden hatte, bei der es genauso war, habe ich zusammen mit meiner Kollegin Christina Rudén eine systematische Untersuchung von insgesamt 35 DNT-Studien gemacht. Das Fazit unserer mehrmonatigen Recherche: Ein Viertel davon fehlte in der EU.
Ist dies denn Pflicht, immer alles vorzulegen?
Ja. Denn in der EU stützt sich die Sicherheitsbewertung von Pflanzenschutzmitteln weitgehend auf Toxizitätsstudien, die von den Herstellerfirmen in Auftrag gegeben werden. Gemäss Gesetz müssen alle durchgeführten Studien in das Dossier aufgenommen werden, das dann der europäischen Behörde EFSA bei der Beantragung oder Erneuerung der Zulassung des Wirkstoffs vorgelegt wird.
Bisher warnt das BLV davor, dass durch Abamectin etwa bei längerer und wiederholter Exposition Organe geschädigt werden, es aber auch sehr giftig für Wasserorganismen und gefährlich für Bienen ist. Kommt jetzt noch mehr hinzu?
Wir haben uns nur die DNT-Studien angeschaut. Syngenta hätte beispielsweise bereits 2005 und 2007 den Behörden in den EU-Staaten, in denen Abamectin-haltige Mittel verkauft wurden, melden müssen, dass bei Tierversuchen mit schwangeren Ratten später bei den Nachkommen eine verzögerte sexuelle Entwicklung beobachtet wurde. 2013, bei einem Antrag auf Änderung der Zulassungsbedingungen, hätte Syngenta die beiden DNT-Studien bei der EFSA einreichen müssen. Für die aktuelle Neuzulassung hat die EFSA aber davon Wind bekommen, weil inzwischen auch die FAO ihre Bewertung von Abamectin auf diese Studien stützt. Mittlerweile haben die EU-Behörden die Referenzwerte für die maximale Aufnahmemenge für den Menschen herabgesetzt. Dies geschah im März 2023, also noch bevor wir unsere Studie in der Fachzeitschrift «Environmental Health» jetzt veröffentlicht haben. In Schweden wurde die Zulassung des einzigen Abamectin-haltigen Pestizides im April 2023 zurückgezogen und läuft Ende Juli aus.
«Wir müssen davon ausgehen, dass ein Stoff, der die Gehirnentwicklung bei Ratten schädigt, dies auch beim Menschen tut.»
Ist es überhaupt möglich, die Ergebnisse von Tierversuchen auf den Menschen zu übertragen?
Wir haben fast gar keine andere Möglichkeit, um herauszufinden, wie sich die Wirkstoffe von Pflanzenschutzmitteln oder anderen Chemikalien auf die Entwicklung des Gehirns auswirkt. Um dies zu untersuchen, werden Versuche mit schwangeren Ratten gemacht. Die Resultate sind zwar nicht eins zu eins übertragbar, aber die Gehirnentwicklung ist bei Menschen und Ratten ähnlich. Wir müssen davon ausgehen, dass ein Stoff, der die Gehirnentwicklung bei Ratten schädigt, dies auch beim Menschen tut. Für unterschiedliche Stoffe hat sich gezeigt, dass chemisch bedingte Störungen der Gehirnentwicklung zu verschiedenen Folgen führen können, darunter eine Verringerung des Intelligenzquotienten (IQ), des Gedächtnisses, Aufmerksamkeitsdefizite oder bestimmte chronische Schädigungen des zentralen Nervensystems. Umgekehrt ist die Vermeidung solcher Stoffe mit Vorteilen verbunden. So führte der schrittweise Ausstieg aus der Verwendung von Blei in Kraftstoffen, Farben und anderen Produkten zu einem Rückgang der Bleikonzentration im Blut von Kindern, was in den Geburtsjahrgängen der späten 1990er-Jahre im Vergleich zu den späten 1970er-Jahren in den USA einem durchschnittlichen Anstieg von 2,2 bis 4,7 IQ-Punkten entspricht.
Breaking News? Ausgewählte Leseempfehlungen? Downloaden Sie hier unsere News-App und bleiben Sie mit den Push-Nachrichten stets auf dem Laufenden. Sie haben bereits unsere App? Empfehlen Sie sie gerne an Freunde und Familie weiter.
Denken Sie, dass die Agrokonzerne absichtlich die DNT-Studien vergessen haben?
Ich war nicht dabei und kann es nicht wissen. Die Alternative wäre, dass es aus Versehen passiert wäre. Für mich ist es aber nicht plausibel, dass es bei einem Viertel der Studien vorkommen würde. Die Einreichung für eine Zulassung ist ein hochgradig regulierter Prozess mit vielen Daten, und natürlich müssen die Firmen einen Überblick darüber haben, welche Studien sie durchgeführt haben.
Muss ein Stoff aus dem Verkehr gezogen werden, wenn Folgen für die Entwicklung des Gehirns im Tierversuch festgestellt worden sind?
Für Pestizide in der EU ist das so. Wir müssen davon ausgehen, dass jeder Schaden des Gehirns, der während der Entwicklungsperiode entsteht, sehr ernsthaft ist. Wenn es gesichert ist, dass es bei Ratten so ist, kann ein Wirkstoff nicht mehr zugelassen werden. Die möglichen lebenslangen Effekte für die Gesundheit des Menschen sind zu gravierend, und die Tierversuche haben ihre Begrenzungen, sodass wir auf der sicheren Seite bleiben müssen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.