Mamablog: Klassiker im Eltern-Repertoire «Du musst keine Angst haben!»
Warum diese Aussage zwar gut gemeint ist, Kinder aber kaum beruhigt. Und wie die Furcht vielleicht sogar zum Freund wird.
Als ich mit etwa acht Jahren in einem Ferienlager war, erschien mir jede Nacht ein Monster. Immer dann, wenn das Gekicher im Massenschlag in tiefes Atmen überging, tauchte es zähnefletschend über mir auf und liess mich, vor Angst zitternd, den Schlafsack übers Gesicht ziehen. Das Zubettgehen wurde zur Qual, denn ich ahnte, dass mich das Monster auch diese Nacht wieder besuchen würde. In besagtem Lager gab es eine feinfühlige Leiterin, die bemerkte, wie ruhig ich, ein sonst so lebhaftes Kind, abends stets wurde. Und fragte mich nach dem Grund. Erst zuckte ich die Schultern, doch als ich in ihrem ruhigen Blick Mut tankte, gestand ich, dass da eben dieses Monster sei. Sie schaute zur Decke, sah zur Maserung an der Holzdiele, lächelte liebevoll und sagte: «Da ist doch kein Monster, das sind bloss Flecken an der Decke. Du brauchst keine Angst zu haben.» Ich nickte tapfer, wusste, dass sie recht hatte – fühlte allerdings etwas komplett anderes.
In der darauffolgenden Nacht war die Fratze gar so gross und furchterregend wie noch nie. Und unter meinen Schlafsack gesellte sich zu der Angst ein weiteres unangenehmes Gefühl: die Scham. Ich schämte mich, die so offensichtlich banalen Flecken für ein Monster zu halten, ich war doch kein Baby! Und gerade weil ich diese Leiterin so sehr mochte, wollte ich ihr gefallen und zeigen, wie vernünftig ich schon war. Als sie mich am nächsten Morgen fragte, ob ich gut geschlafen hätte, fakte ich ein Strahlen, nickte – und zählte in Gedanken die Nächte, die ich noch unter dem Monster schlafen musste. Denn so gut es die Leiterin auch mit mir gemeint hatte, so sehr war sie mit ihrer Beschwichtigung an mir und meiner Wahrnehmung vorbeigeschossen. Vorbei an meiner Angst und jenem Monster, das mir widerspiegelte, wie unsicher und überfordert ich mich in der Nacht an diesem fremden Ort doch fühlte.
Ein Herz für die Angst
Daran musste ich oft denken, wenn mir Jahrzehnte später bei meinen Kindern jener Satz rausrutschte, der noch immer einen Klassiker im Eltern-Repertoire darstellt: «Du musst doch keine Angst haben!» Es ist ein Satz aus der Erwachsenenperspektive, die sich nicht zu erinnern vermag, wie gross die eigenen Gefühle einst waren. Wir sagen diesen Satz, weil er uns selbst so oft gesagt wurde. Weil es uns schmerzt, wenn unser Kind leidet. Weil wir seine Angst wegzaubern möchten, es glücklich sehen wollen. Wir meinen es gut. Doch nicht immer ist «Gut» drin, wo «Gutgemeint» draufsteht. Denn natürlich müssen Kinder keine Angst haben. Aber sie haben sie nun mal.
Ängste sind wohlwollende Freunde, die etwas zu sagen haben.
Dieser Satz erzählt von einer Kultur, in der Angst keinen guten Ruf hat, in der sie schnellstmöglich zu verschwinden hat, wenn sie sich zeigt. Dabei übersehen wir, wie sehr Angst eigentlich ein Schutzmechanismus ist, der es gut mit uns meint. Denn ohne die Angst würden wir alle nicht sonderlich lange leben, weil wir viel zu viele Grenzen übertreten würden. Ängste sind wohlwollende Freunde, die etwas zu sagen haben. Und wenn wir nicht wollen, dass sie sich in ihrem Übereifer verselbstständigen, müssen sie erfahren, dass sie gesehen werden. Denn Angst ist kein Fremdkörper im Leben unseres Kindes, sondern ein Teil von ihm, der genauso willkommen sein will, wie seine Freude und sein Mut.
Der Angst ein Gesicht geben
Natürlich ist nichts Falsches daran, wenn wir als Erwachsene Fakten einstreuen und besänftigende Worte finden, wenn unser Kind sich ängstigt. Dennoch sollten wir versuchen, uns auf seine Welt einzulassen und seine Angst nicht nur zu sehen, sondern auch zu verstehen. Wer noch einen Schritt weitergehen will, kann mit dem Kind, die Angst sogar willkommen heissen. Ihr etwa ein schönes Plätzchen bauen, schauen, wie sie aussieht, welche Farbe sie hat, wie sie sich im Körper anfühlt. Ihr sagen, dass sie da sein darf. Dadurch erhält Angst eine greifbare Form und verliert das Diffuse, das sie so überwältigend macht. Klingt nach Esokram und Gschpürschmizeug? Probieren Sie es aus! Jedes Mal, wenn wir diesen Weg gingen, verschwand die Angst komplett oder wurde zumindest massiv weniger.
Meiner Ansicht nach hören viel zu viele Kinder irgendwann auf, über ihre Angst zu sprechen, weil sie lernen, dass diese nicht gern gesehen oder gar belächelt wird. Doch dadurch verschwindet sie nicht einfach, sondern wird grösser und sucht sich vielleicht einen weitaus destruktiveren Weg; manchmal gar weit über die Kindheit hinaus. Kinder verlieren eine wichtige Ressource fürs Leben, wenn sie ihre Ängste wegdrücken. Wird ihnen hingegen klar, dass auch die dunklen Seiten zu ihnen gehören und sie die Kraft haben, mit ihnen umzugehen, erhalten sie wichtige Skills fürs Leben: Akzeptanz und Selbstwirksamkeit. Die wirksamsten Werkzeuge im Umgang mit grossen Gefühlen.
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