Kolumne von Barbara BleischDie Tyrannei der Intimität
Mit dem Ende der Homeoffice-Pflicht beginnen wieder die Leiden des Pendelns: zum Beispiel der Zwang zum Mithören fremder Telefongespräche.
Die bundesrätliche Homeoffice-Pflicht ist einer Empfehlung gewichen. Zumindest tageweise werden damit viele den heimischen Arbeitsplatz wieder gegen das Büro im Unternehmen tauschen.
Für die meisten bedeutet das auch, sich für den Arbeitsweg in Trams, Busse und Züge zu setzen. Das mag durchaus Vorteile haben: Job und Privatsphäre lassen sich besser separieren, wenn wir die Trennung auch räumlich vollziehen. Auf dem Arbeitsweg kommt man ausserdem zum Zeitungslesen, oder man lässt den Tag in Ruhe Revue passieren.
Wenn man denn könnte! Immer öfters sitzt man im Abteil mit einer Person, die in ihr Handy brüllt. Noch schlimmer ist die Beschallung, wenn jemand Facetime ohne Kopfhörer nutzt, sodass auch die Antworten des Gesprächspartners aus dem Lautsprecher dröhnen. Robert Gernhardt lässt Gott in einer Erzählung ein elftes Gebot erlassen: «Du sollst nicht lärmen.» Es scheint mir aktueller denn je.
Lärm ist bekanntlich das Geräusch der anderen.
Gemessen an der Tatsache, dass ich niemanden kenne, der sich an den Telefonanrufen im öffentlichen Verkehr nicht stört, ist es erstaunlich, dass man ihnen andauernd ausgesetzt ist. Vielleicht liegt das daran, dass Lärm bekanntlich das Geräusch der anderen ist. Mein Mixer mag zwar keinen Wohlklang verbreiten. Aber angesichts des Umstands, dass er mir zur sämigen Suppe verhilft, nehme ich seine Emissionen gern in Kauf. Die Nachbarn, die nichts von meiner Suppe haben, wird die Geräuschkulisse weniger erfreuen. «Der eigene Hund macht keinen Lärm – er bellt nur», schrieb der Dichter Kurt Tucholsky. Entsprechend ist auch Telefonieren kein Lärm, solange man selbst im Gespräch ist.
Vielleicht ist die Einstellung gegenüber dem öffentlichen Telefonieren auch kulturell geprägt. Herrscht in den einen Weltregionen Grabesstille in der U-Bahn, trifft man in den anderen auf einen Geräuschpegel, dass ohnehin niemand sein eigenes Wort, geschweige denn einen Telefonanrufenden verstünde.
Dazu kommt die Generationenfrage. Die Jüngeren scheinen sich an der Telefonie der anderen nicht gross zu stören. Allerdings haben auch die allermeisten Kopfhörer auf. Wer nicht grad telefoniert, beschallt sich mit einem Podcast oder Musik. Ich habe mir mittlerweile auch «Noise cancelling»-Kopfhörer zugelegt, um Ruhe im akustischen Sturm zu finden. Aber ist das wirklich die Lösung: dass wir uns alle die Ohren zupfropfen, weil es überall zu laut ist?
Sicherlich hängt es auch von der Stimmung ab, ob einen die Fremdbeschallung stört. Auf dem Skilift stört mich fremdes Geplapper nicht. Aber da kann man mich auch nicht unterbrechen beim Lesen oder Arbeiten, was beim Pendeln durchaus möglich ist. «Der Lärm ist die impertinenteste aller Unterbrechungen, da er sogar unsere eigenen Gedanken unterbricht, ja, zerbricht», schreibt Arthur Schopenhauer in «Parerga und Paralipomena» in einer wahren Schimpftirade gegen den Lärm. Insofern als der öffentliche Raum allen gehört und kein mobiles Büro ist, kann man im Zug oder Tram jedoch nicht dieselbe Rücksichtnahme erwarten wie in einer Bibliothek.
Fremde drängen einem private Inhalte auf, von denen man lieber unbehelligt bliebe.
Vielleicht also einfach weghören? Gewisse Gespräche sind von einer Penetranz, dass es schwerfällt, sie grosszügig auszublenden. Wenn die Beziehungskrise oder das Geläster über den Kollegen lautstark am Telefon verhandelt werden, ist das eine «Tyrannei der Intimität», um mit Richard Sennett zu sprechen: Es werden einem von Fremden private Inhalte aufgedrängt, von denen man lieber unbehelligt bliebe.
Kürzlich bin ich auf eine Postkarte gestossen, auf der stand: «Darf man fremden Leuten eigentlich Fragen stellen, nachdem sie im Bus telefoniert haben und einem noch etwas unklar ist?» Vielleicht wäre das der humoristische Umgang mit dem Problem: Einfach mal kurz nachfragen, ob der Roli die Chrigi denn nun mit dem Beni erwischt hat oder umgekehrt. Dann käme man dank der unliebsamen Anrufe sogar wieder miteinander ins Gespräch.
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