Gastbeitrag zur NeutralitätDie Schweiz zwischen «heiligem Egoismus», Anpassung und Widerstand
Der Ukraine-Krieg fordert die Sicherheits- und Aussenpolitik der Schweiz wieder neu heraus. Die Diskussionen um ihre konkrete Ausgestaltung sind nicht neu, aber nötig.
Wie viel Neutralität dient der Schweiz, wie viel Anpassung an die Grosswetterlage der internationalen Politik ist nötig? Die Frage ist im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wieder aktuell. Deutlich zeigt sich das Dilemma im Streit um die 12’000 Schuss Schweizer Flak-Munition in deutschem Besitz. Deren Ausfuhr in die Ukraine hat der Bundesrat untersagt. Begründung: das strenge Schweizer Kriegsmaterialgesetz. In Deutschland wird der Entscheid anders interpretiert, nämlich als «Rückzug ins Schneckenhaus» und als Ausdruck davon, dass die Schweiz nationale Eigeninteressen höher gewichtet als die Solidarität mit einem völkerrechtswidrig überfallenen Land.
So virulent war der Gegensatz zwischen Eigeninteressen und Anpassung letztmals während des Zweiten Weltkriegs. Am schärfsten auf den Punkt gebracht hat ihn ein rechtskonservativer Luzerner Politiker: Heinrich Walther, Nationalrat und Fraktionschef der damaligen Konservativen Volkspartei, der heutigen Mitte.
Nach der Kapitulation Frankreichs 1940 forderte Walther in einem viel beachteten Grundsatzartikel in der Tageszeitung «Vaterland» einen «Sacro Egoismo», also eine «heilige Selbstsucht» in der Politik. Die Schweiz müsse sich mit den Realitäten abfinden, die die Nazis auf dem Schlachtfeld geschaffen hatten: «In das neue Europa wird sich die Schweiz einzufügen haben.»
Heinrich Walther war bereit, einen faustischen Wirtschaftspakt mit Hitler einzugehen.
Noch deutlicher wurde Walther in Bezug auf die Flüchtlingspolitik: «Es gibt einen Sacro Egoismo, dem man in gewissen Zeiten Rechnung tragen muss, und diesem Sacro Egoismo muss man auch einen gewissen Einfluss auf die Handhabung des Asylrechts zugestehen.»
Walther schrieb nicht nur Aufrufe, er handelte auch danach. Als SBB-Verwaltungsrat forderte er maximales Entgegenkommen der Schweiz gegenüber Deutschland. Im Zusammenhang mit den Zugsverbindungen über Gotthard und Simplon forderte Walther im Verwaltungsrat, den Wünschen der Deutschen Reichsbahn sei «weitgehendst entgegenzukommen». Zudem erklärte er, die Schweiz müsse trotz Mangellage im Inland weiterhin elektrische Energie in den Norden liefern.
Heinrich Walther war bereit, einen faustischen Wirtschaftspakt mit Hitler einzugehen. Er tat dies nicht, weil er mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, sondern weil er in der Anpassung grössere Überlebenschancen für sein Land sah als im Widerstand. Er schrieb: «Das erste und letzte Ziel für die Schweiz wird stets die Erhaltung unserer Neutralität, Freiheit und Unabhängigkeit bleiben müssen. Die Erhaltung dieser Position ist für uns die Voraussetzung der Einfügung in das neue Europa.»
Wie die Schweiz ihre Innen- und Aussenpolitik gestaltet, muss immer wieder neu, offen und heftig diskutiert werden.
Die Schweiz war im Zweiten Weltkrieg von den Achsenmächten umzingelt. Ihre Situation lässt sich mit heute nicht vergleichen. Es gibt hierzulande kaum Stimmen, die sich im Ukraine-Krieg für eine Anpassung an die kriegserzwungene Neugestaltung Osteuropas aussprechen.
Es gibt allerdings etwas, das sowohl für die Weltkriegs-Schweiz als auch für die heutige Schweiz zutrifft: der Meinungsaustausch um politisch-gesellschaftliche Vorstellungen. Insofern ist es typisch, mit welchen Gedanken der damalige Volkswirtschaftsminister auf Walthers Ansinnen reagierte. Bundesrat Walther Stampfli schrieb dem konservativen Fraktionschef nüchtern, er bezweifle, «dass Deutschland demnächst bei der Organisation des neuen Europa mit der Frage an uns herantreten werde, ob wir mitzumachen gedenken oder nicht».
Die damaligen und gegenwärtigen Diskussionen um den aussenpolitischen Kurs zeigen: Wie die Schweiz ihre Innen- und Aussenpolitik im Spannungsfeld von Neutralität, Völkerrecht und Grossmachtpolitik gestaltet, muss immer wieder neu, offen und heftig diskutiert werden.
* Patrick Pfenniger ist Historiker in Luzern. Sein Buch «Sacro Egoismo! Heinrich Walther und das nationalsozialistische Deutschland» ist soeben im Schwabe-Verlag erschienen.
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