Neue Daten zur Biodiversität Die Schweiz will Tiere und Pflanzen schützen, stagniert aber – warum?
Neue Studien des Bundesamts für Umwelt zeigen: Wir kommen beim Artenschutz nicht vorwärts, es fehlt an naturnahem Lebensraum. Das sind die fünf wichtigsten Gründe dafür.
Der Schutz der Biodiversität in der Schweiz ist noch keine richtige Erfolgsgeschichte: Das zeigen zwei neue Berichte des Bundesamts für Umwelt, die von der Direktorin Katrin Schneeberger heute persönlich vorgestellt wurden. 17 Prozent aller Arten sind «vom Aussterben bedroht» oder «stark gefährdet», weitere 16 Prozent gelten als «verletzlich». Die Fläche der Schutzgebiete von nationaler Bedeutung ist zwar in den letzten 20 Jahren grösser geworden und es gibt Gesetze, Initiativen und Landschaftskonzepte, doch bisher hapert es laut den Berichten an einer konsequenten Umsetzung.
«Eine reiche Biodiversität dient auch dem Klimaschutz. In den letzten Jahren wurden einige Fortschritte erzielt, die jedoch noch nicht ausreichen, um den Trend umzukehren, sagt Bafu-Direktorin Katrin Schneeberger.
Das sind wichtige Gründe, warum wir nicht weiter sind:
Die Fläche der geschützten Gebiete ist zu klein
Gemäss dem neuen Bericht zum Zustand der Biodiversität hat die Schweiz bisher nur gut 13 Prozent der Landesfläche für die Erhaltung der Biodiversität definiert. Damit hat sie das vorgegebene Ziel der Biodiversitätskonvention für 2020, nämlich 17 Prozent, nicht erfüllt. Die Fläche der Schutzgebiete hat sich in den vergangenen fünf Jahren nicht vergrössert. Es geht dabei nicht nur um abgeschlossene Naturschutzgebiete, sondern auch um extensiv bewirtschaftete Landwirtschaftsflächen und degradierte Gebiete, die renaturiert werden. Zum Beispiel extensiv bewirtschaftete Trockenwiesen, die der Mensch geschaffen hat. Oder degradierte Auen, die in den letzten hundert Jahren 70 Prozent der Fläche verloren haben und nur punktuell wieder aufgewertet werden.
In den vergangenen Jahren seien zwar zahlreiche Grünareale in Schweizer Städten aufgewertet oder neu angelegt worden, heisst es im Bericht. Als Folge der dichteren Bebauung nahm der Versiegelungsgrad im Siedlungsgebiet aber weiter zu. 48 Prozent der Lebensräume, die im Bericht bewertet wurden, gelten als gefährdet. Darunter sind Fliessgewässer, Ufer, Feuchtgebiete und Grünland. Gemäss einem früheren Bericht des Forums für Biodiversität und der Akademie der Wissenschaften braucht es eine Verdreifachung der Auen-Fläche, um deren Biodiversität zu erhalten. Die Experten empfehlen weiter etwa 18 Prozent Grünfläche in den Siedlungen. Areale für Pärke und Gärten nehmen aber derzeit tendenziell durch die Bauverdichtung ab.
Stark beeinträchtigt sind auch nach wie vor die Gewässerlebensräume. In rund 30 Prozent der Schweizer Fliessgewässer ist laut Bundesamt für Umwelt die Artenvielfalt so niedrig, dass die Wasserqualität als mangelhaft beurteilt wird. Im Mittelland seien sogar 40 Prozent aller Fliessgewässer «mangelhaft». Zudem sind zahlreiche Bäche und Flüsse nach wie vor stark verbaut.
Es gibt zu wenig hochwertige Ökoflächen
Die Schweiz ist grundsätzlich vorbereitet, um die Biodiversität zu fördern. Der Bundesrat hat 2012 die Biodiversitätsstrategie festgelegt und 2017 einen Aktionsplan dazu beschlossen. Die Kantone haben aber erst jetzt – zehn Jahre nach Verabschiedung der Strategie – begonnen, im Rahmen des Projekts «Ökologische Infrastruktur» des Bundes, sich mit der Ausscheidung ökologisch wertvoller Flächen zu beschäftigen. Die Anzahl der Biodiversitätsförderflächen hat zwar seit 2011 laut dem Bundesamt für Umwelt deutlich zugenommen. Und die Ausscheidung zeige auch einen positiven Effekt auf die Vielfalt an Pflanzen und Tierarten.
Allerdings: Die Fördermassnahmen vermögen den Biodiversitätsverlust in der Landwirtschaft nicht zu kompensieren. «Die aktuelle Quantität, Qualität und Vernetzung vieler Lebensräume reichen nicht aus, um ihre Biodiversität und Ökosystemleistungen langfristig zu erhalten», heisst es im Bericht.
Arten sind in der Schweiz besonders stark gefährdet
Der Verlust an qualitativ wertvollem Lebensraum zeigt sich auch in der Roten Liste der gefährdeten Arten. Die Liste bewertet laut Bundesamt für Umwelt bisher ein Fünftel aller bekannten in der Schweiz vorkommenden Arten (in Zahlen: 56’009): 35 Prozent dieser Arten sind ausgestorben oder als gefährdet eingestuft. Die Gefährdungssituation hat sich in den letzten 12 Jahren nicht verbessert, heisst es im Bericht zur Biodiversität.
Für knapp die Hälfte der untersuchten Arten in der Schweiz braucht es gemäss den Autoren stärkere Massnahmen für den Artenschutz. Dabei seien Schutzgebiete besonders wichtig. Im Zentrum sind Biotope von nationaler Bedeutung: Dort lebt ein Drittel der gefährdeten Arten. Im Vergleich zu benachbarten Ländern sei der Anteil gefährdeter oder ausgestorbener Arten in der Schweiz besonders hoch, schätzen die Autoren des Berichtes «Gefährdete Arten und Lebensräume in der Schweiz».
Es gibt zwar auch positive Beispiele: So haben sich die Bestände des Kiebitzes, der Flussseeschwalbe und des Steinkauzes in den letzten zehn Jahren erholt. Auch bei den Libellen und Amphibien gibt es Arten, denen es heute besser geht. Trotzdem gebe es in dieser Gruppe noch immer viele Arten, deren Bestände sänken, heisst es im Bericht.
Die Subventionspolitik ist umstritten
Das Bundesamt für Umwelt sieht in den hohen Stickstoff- und Pflanzenschutzmitteleinträgen eine Hauptursache für die schwache Artenvielfalt in der Landwirtschaft. «Das Grünland wird immer monotoner, insbesondere im Mittelland», schreiben die Autoren des Biodiversitäts-Berichtes. Der Bundesrat hat deshalb im April 2022 ein Massnahmenpaket für eine nachhaltigere Landwirtschaft verabschiedet.
Markus Fischer, Professor für Pflanzenökologie am Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Bern, hat in einem Interview im letzten Dezember mit dieser Zeitung kritisiert, die Subventionspolitik des Staates fördere die Extensivierung landwirtschaftlicher Flächen zu wenig. «Sie ermöglicht Betrieben zu überleben und im internationalen Wettbewerb zu bestehen, ist aber im Umweltbereich zu schwach.» In der Landwirtschaft würden punkto Umweltschutz nach wie vor Minimalstandards verlangt, zum Beispiel bei der Stickstoffdüngung oder beim Pestizideinsatz.
Hinzu kommt, dass viele subventionierte Ökoflächen zu klein und nicht vernetzt sind. Es gibt über 160 Subventionen, Steuererleichterungen und andere Anreize, die für die Biodiversität nicht förderlich sind. Das war das Resultat einer Studie der Forschungsanstalt WSL und der Akademie der Naturwissenschaften vor zwei Jahren. Der Bundesrat will nun bis 2024 eine Korrektur anbringen. Sie gehe deutlich zu wenig weit, kritisiert Pro Natura. «Es gibt keine umfassende Ökosystempolitik in der Schweiz, die das gesamte System betrachtet», sagt Fischer.
Raumplanung könnte naturnahe Lebensräume schaffen
Der Bundesrat sieht in der Raumplanung grosses Potenzial, um naturnahe Lebensräume zu schaffen. Im indirekten Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative ist die Förderung der Natur in den Siedlungen ein Kernthema. Der Bundesrat will damit Grün- und Gewässerräume, Stadtwälder oder begrünte Dächer und Fassaden fördern.
Für Forschende des Nationalen Forschungsprogramms NFP 68 gibt es aber noch einen anderen Punkt in der Raumplanung, der vielfach vergessen geht: die Bodenqualität. «Die Funktion des Bodens ist derzeit bei der Erstellung von Nutzungsplänen praktisch nie ein Thema», sagt Adrienne Grêt-Regamey, Raumplanerin an der ETH Zürich und Hauptautorin des NFP-Berichts. Sie geht davon aus, dass weitere 18 Prozent an fruchtbarem Boden verloren gehen werden, wenn in den nächsten Jahren die Gemeinden die Bodenqualität nicht in die Nutzungspläne integrieren.
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