Italien blockiert NGOsDie Retter werden schikaniert – doch keiner schaut hin
Italiens Umgang mit Seenotrettern im Mittelmeer ist nach dem Sturz des rechten Innenministers Matteo Salvini nicht lockerer geworden. Neu sind nur Stil und Methoden.
Im Gericht von Catania auf Sizilien trug sich neulich eine denkwürdige Szene zu. Vorgeladen waren drei prominente Herrschaften: Matteo Salvini, Italiens früherer Innenminister von der rechten Lega, seine parteilose Amtsnachfolgerin Luciana Lamorgese und der Aussenminister des Landes, Luigi Di Maio von den Cinque Stelle. Salvini als Angeklagter, die anderen als Zeugen. Verhandelt wurde der «Fall Gregoretti», benannt nach einem Schiff der italienischen Marine.
Es geht darin um die Frage, ob Salvini im Sommer 2019, als er noch Minister war, während mehrerer Wochen widerrechtlich 131 Migranten und Crew an Bord der Gregoretti gefangen gehalten hatte – als Geiseln für seine Propagandapolitik der «Porti chiusi», der geschlossenen Häfen. 15 Jahre Haft drohen ihm deshalb, es ist nicht das einzige Verfahren dieser Art.
Die skurrile Geschichte von der Gregoretti
Salvini behauptete im Gericht, er habe immer nur das Land und seine Grenzen verteidigt. Der Rest der Regierung? Habe alles mitgetragen, unisono. Di Maio gab zurück, das Kabinett habe jeweils erst aus den Tweets des Ministers von den Blockaden erfahren, im Nachhinein also.
Es ist eine skurrile Geschichte. Da hinderte also ein Minister der Republik eine Crew der italienischen Marine daran, in einem italienischen Hafen anzulegen, damit die Welt und die italienischen Wähler im Besonderen sich ein Bild davon machen konnten, was für ein harter Kerl er sei. Dabei befanden sich die Migranten an Bord der Gregoretti bereits auf italienischem Boden, die Sperre war also rechtlich nutzlos. Und: unmenschlich. Besatzung und Passagiere lebten in ihrem eigenen Abfall.
Richtig weltbekannt geworden war Salvinis Nummer gegen staatliche und private Retter bei seinem wochenlangen Showdown mit Carola Rackete, der Steuerfrau der Sea Watch 3: Kapitänin gegen «Capitano», NGO gegen den italienischen Staat. Vor Lampedusa. Im Ausland schüttelte man den Kopf.
In Italien aber stieg Matteo Salvinis Gunst: Zu lange hatte man sich alleingelassen gefühlt mit den Migrationsströmen über das zentrale Mittelmeer. Nun gab es da einen, der sich für die mangelnde Solidarität in Europa rächte. Auf dem Rücken der Migranten und der Seenotretter zwar, aber das kümmerte seine Anhänger nicht. Die italienische Lobby der NGOs war ohnehin geschrumpft.
Schon Salvinis Vorgänger, der Sozialdemokrat Marco Minniti, Innenminister von 2016 bis 2018, hatte die Retter kritisiert. Sein umstrittener Deal mit den Libyern brach die Welle der Meerüberquerungen, er hatte aus libyschen Milizionären Küstenwächter gemacht. «Mare Nostrum», die grosse Rettungsoperation der italienischen Marine, war nur noch eine ferne, schnell verblassende Erinnerung.
Im Gericht von Catania sprach dann auch Salvinis Nachfolgerin. Lamorgese, Innenministerin seit Herbst 2019, war früher Präfektin von Mailand, eine hohe Beamtin, bekannt für ihre Geradlinigkeit. Salvini mag sie nicht, er hat das oft genug kundgetan. Seit kurzem sitzt er aber mit seiner Lega in derselben Regierung wie Lamorgese, alle vereint unter Premier Mario Draghi, und diese Konstellation dämpft natürlich die gegenseitigen Angriffe.
Lamorgese sagte also im Tribunal, unter ihrer Leitung habe sich Italiens Umgang mit den Helfern im Mittelmeer fundamental verändert. «Una svolta», habe sie bewirkt, eine Wende. Aber ist das auch wahr? Matteo Villa vom Istituto per gli Studi Internazionali zeigt in einer Studie, dass Lamorgese die NGOs gar noch stärker schneidet und effektiver abblockt, als das Salvini tat. Einfach mit weniger Aufsehen, stiller und etwas feiner im Stil.
Neu ist, dass Italien die privaten Seenotretter nicht mehr vordringlich mit strafrechtlichen Mitteln und hohen Geldstrafen verfolgt, wie das Salvini versucht hatte. Lamorgese setzt auf langwierige bürokratische Verfahren. Die NGOs sollen möglichst daran gehindert werden, ihre Einsätze zu fahren. Mal wird ihnen vorgeworfen, ihr Schiff sei nicht seetauglich, mal fehlen Papiere. Schikanen, nennen es die Rettungsorganisationen und sitzen fest.
Einmal waren sieben Schiffe gleichzeitig festgetäut
Unter Lamorgese gab es Zeiten, da hielt Italien so viele Schiffe von Hilfsorganisationen zurück, dass monatelang keines oder nur eines im Einsatz war. Einmal, vom 9. Oktober bis 21. Dezember 2020, waren sieben gleichzeitig festgetäut: Iuventa, Sea Watch 3, Sea Watch 4, Eleonore, Alan Kurdi, Ocean Viking und Louise Michel. Forscher Villa hat dazu eine farbige Infografik erstellt, ein Blick genügt: Lamorgese hindert die NGOs zwei bis drei Mal so stark an ihren Missionen, als es Salvini tat.
Die Überfahrten haben aber nicht abgenommen, im Gegenteil: Seit Jahresbeginn 2021 sind 6068 Migranten in Italien eingetroffen, während es in demselben Zeitraum im Jahr davor 2738 gewesen waren und 2019 nur 398.
Erst wenn klar ist, dass die Migranten auf Partnerstaaten verteilt werden können, erhält die NGO einen Anlegeplatz.
Gleich geblieben ist das Vorgehen. Wie Salvini hält sich Lamorgese bei jedem neuen Hilferuf eines Schiffs mit geretteten Flüchtlingen an folgende Devise: Erst wenn klar ist, dass die Migranten auf Partnerstaaten verteilt werden können, erhält die NGO einen Anlegeplatz – einen sogenannten POS, das ist das Akronym für Place of Safety, sicherer Hafen. Salvini war es immer ganz recht, wenn das Prozedere möglichst lange dauerte, so konnte er seine Politik ordentlich inszenieren.
Unter Lamorgese geht es schneller, im Durchschnitt zweieinhalb Tage. Zu verdanken ist das dem Abkommen von Malta im Herbst 2019. Vier Länder, nämlich Italien, Malta, Deutschland und Frankreich, haben sich damals geeinigt, freiwillig Migranten, die eines der zwei erstgenannten Länder ansteuern, bei sich aufzunehmen. Mittlerweile machen einige weitere Länder mit. Auch deshalb spricht kaum mehr jemand von wartenden Schiffen.
Die Helfer fühlen sich kriminalisiert
Die Methode aber ist dieselbe geblieben, es ist eine Behelfsmethode ohne Automatismus und ohne klare Verpflichtungen. Sie wird wohl noch so lange angewandt werden, bis Europa sich eine umfassend neue, oft schon verheissene Immigrationspolitik gibt und dabei vor allem das Dubliner Übereinkommen revidiert. Es sieht vor, dass immer das Erstankunftsland zuständig ist für das Asylverfahren. Das sind nun mal fast immer Länder im Süden Europas, mit ihren Gestaden am Mittelmeer, einen Sprung nur entfernt von Afrika und dem Nahen Osten. Doch nichts lässt erahnen, dass sich Europa in diesen Fragen bald bewegt.
Und in der Zwischenzeit macht sich fast niemand mehr für die NGOs stark. Sie selber klagen über eine «Kriminalisierung» ihrer Missionen, sie würden ständig mit Schlamm beworfen, wo sie doch die Würde Europas verteidigten.
Sizilianische Staatsanwälte haben schon viele Ermittlungen angestrengt. Meist ging es darum, den Rettern nachzuweisen, dass sie Beihilfe zur illegalen Einwanderung leisten. Bisher ist von den Vorwürfen noch nie etwas hängen geblieben, nach der Voruntersuchung war jeweils immer Schluss.
Gegen «Jugend Rettet» aber gibt es nun einen Prozess. Ihr Schiff, die Iuventa, sitzt schon seit dreieinhalb Jahren in Trapani fest. Der deutschen Organisation wird vorgeworfen, sie habe sich damals, bei der grossen Welle der Überfahrten 2016 und 2017, mit den Schleusern abgesprochen. Die Iuventa habe dafür hart an Libyens Küste gekreuzt, Lichtzeichen ausgesendet für die Menschenhändler und gleichzeitig den Transponder ausgeschaltet, damit die Behörden sie nicht lokalisieren konnten. In einem Fall sollen sie den Schleppern drei Schiffe zurückgegeben haben.
«Leben retten ist nie ein Verbrechen.»
Die Ermittler berufen sich auf Aussagen eines Augenzeugen, der versteckt agierte und für seine Dienste offenbar eine Anstellung von Salvinis Partei versprochen erhielt. Hört man. «Jugend Rettet» bestreitet die Vorwürfe gegen sie: «Leben retten ist nie ein Vebrechen», steht auf ihrer Webseite. «Wir werden beweisen, dass alle Operationen der Iuventa absolut gesetzeskonform waren.»
Der Fall ist brisant, der Paradefall schlechthin. Werden die Leute der Iuventa verurteilt, bekommen die ein bisschen recht, die die NGOs als «Taxis im Meer» und «Vizeschlepper» beschimpfen. Auch italienische Minister haben diese Begriffe schon gebraucht, in aller Öffentlichkeit. Man misstraut sich, auf beiden Seiten, scheinbar heillos. Der «Corriere della Sera», Italiens grösste Zeitung, schreibt zu den Erkenntnissen aus der neuen Studie: «Die Schlacht gegen die Schiffe der NGOs hat nie aufgehört.»
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