Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Ewige Momente
«Die Mutter aller Niederlagen»

Bittere Niederlage in der Nachspielzeit gegen Manchester United: Die Bayern-Spieler Michael Tarnat, Oliver Kahn und Mehmet Scholl (v. l.) können es nicht fassen.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Das Spiel hat etwas von der Mondlandung. Wer es gesehen hat, weiss noch genau, wo er an diesem Abend gewesen ist. Er hat es daheim gesehen oder in irgendeiner Bar. Und er hat es nicht vergessen, weil es auch ein Spiel ist, wie es selten eines gegeben hat.

Ottmar Hitzfeld ist an diesem Abend in Barcelona, es ist der 26. Mai 1999, als er mit Bayern München im Final der Champions League auf Manchester United trifft. Es ist eines von 1039 Spielen, die er in seiner grossen Karriere als Trainer bestreitet, noch heute, fast 21 Jahre später, sagt er: «Das ist die Mutter aller Niederlagen.» Und wenn er das sagt, er, der seine Worte immer mit Bedacht gewählt hat, dann soll das etwas bedeuten.

90’000 Zuschauer sind im Camp Nou, Mario Basler erzielt das 1:0 schon nach sechs Minuten. Die United rappelt sich langsam auf, aber ihr ist anzumerken, dass mit Roy Keane und Paul Scholes zwei wichtige Spieler wegen einer Sperre im Mittelfeld fehlen. Sie kommt zu keiner wirklichen Chance.

Die zweite Halbzeit läuft, Bayern hat seine grossen Möglichkeiten zum zweiten Tor, Peter Schmeichel lenkt einen Schuss von Stefan Effenberg über die Latte, Mehmet Scholl trifft den Pfosten und Carsten Jancker mit seinem Fallrückzieher die Latte, da ist die 90. Minute schon sehr nahe. Die Sekunden verrinnen für die United. Die Journalisten schreiben ihre Berichte bereits so, als würde Bayern den Match gewinnen. Ihre Abschlusszeit rückt näher, das Spiel hat erst um 20.45 Uhr begonnen.

Der unheilvolle Orkan

An der Seitenlinie bleibt Ottmar Hitzfeld konzentriert, «ich bin ein Trainer gewesen, der bis in die letzte Sekunde wachsam war und sich nicht zu früh freute», sagt er. Gut, wenn es 2:0 oder 3:0 stand in der 85. Minute, liess auch bei ihm die Anspannung nach. Aber nicht jetzt, bei einem 1:0 im Final der Champions League, selbst in der 90. Minute nicht – und schon gar nicht gegen einen Gegner, «der alles nach vorne wirft», sagt er.

Wachsam sein und sich nicht zu früh freuen: Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld (2. v. l.) an der Seitenlinie in Barcelona.

Der Gegner erkämpft sich einen Eckball, unnötig verschuldet von Effenberg. Hitzfeld hört den Jubel der United-Fans wie einen Orkan aufbrausen, er spürt: «Jetzt wird es knapp.» David Beckham schlägt den Corner, Thorsten Fink gelingt es auf der Fünfmeterlinie, mehr neben den Ball zu treten als ihn zu treffen, Ryan Giggs kommt zum Abschluss, es ist kein eigentlicher Schuss, zu schwach ist sein Versuch. Aber irgendwie landet der Ball bei Teddy Sheringham, «ja, ja», sagt Hitzfeld, «Sheringham macht ihn rein». Was er in diesem Moment wirklich denkt, will er nicht in der Zeitung lesen, darum sagt er: «Es ist nicht in Worte zu fassen. 1:1! Ein Zufallsprodukt!»

Uefa-Präsident Lennart Johansson ist in diesem Moment unterwegs von der Ehrentribüne ins Stadioninnere, er geht auf seinem Weg davon aus, Bayern den Pokal zu überreichen. Die Bändel in Bayern-Farben werden am Pokal schon angebracht. Sheringhams Tor sieht Johansson nicht.

Hitzfeld nimmt augenblicklich wahr, wie es um seine Mannschaft steht, «sie ist geschockt», sagt er, «es ist ja nicht irgendein Spiel in der Bundesliga, bei dem man sich sagt: Komm, wir haben noch zwei Minuten, das Spiel gewinnen wir noch.» Nein, es ist ein Spiel des Lebens, die grosse Chance für alle, Geschichte zu schreiben. So beschreibt das Hitzfeld.

Die 93. Minute läuft, Johansson ist immer noch unterwegs. Wieder erzwingt die United einen Eckball. Und wieder hört Hitzfeld diesen orkanartigen Jubelschrei von Zehntausenden ihrer Fans. Bayern ist noch unter Schock, der Gegner dafür hochmotiviert, Hitzfeld denkt sich: «Jetzt können wir noch alles verlieren.»

Beckham tritt auch diesen Eckball, Sheringham leitet ihn mit dem Kopf weiter, und mitten vor dem Tor, vielleicht zwei Meter davon entfernt, steht Ole Gunnar Solskjaer. Er steht erst seit zwölf Minuten auf dem Platz. Und nun steht dieser Stürmer da, den die Engländer wegen seiner weichen Züge «the baby-faced assassin» nennen, den milchgesichtigen Mörder. Er reagiert blitzschnell und fährt den rechten Fuss aus, das reicht, «Solskjaer drückt den Ball über die Linie», vollendet Hitzfeld die Szene. Noch heute, mit 71 Jahren, ist sein Ton voller Resignation. Johansson verpasst auch diesen Treffer.

Albtraum oder Wahrheit?

Solskjaer trifft nach 92 Minuten und 17 Sekunden. Ein paar Momente später ist das Spiel fertig. Samuel Kuffour schlägt dreimal in der Wut in den Rasen, dann auch noch ein viertes Mal. Es ist ein Bild, das bleibt. Hitzfeld weiss, wie sehr er in diesen Minuten gefragt ist. Noch bevor er zur Pressekonferenz geht, sagt er der Mannschaft: «Ihr habt eine gute Leistung gebracht. Ihr habt Fehler gemacht, aber ihr dürft stolz sein.» In der Nacht danach wacht er aus dem Schlaf auf und denkt sich: «Ist das ein Albtraum oder die Wahrheit?»

Die Geschlagenen: Ottmar Hitzfeld (Mitte) und seinen Spielern steht die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

Zwei Tage später bereitet er seine Spieler auf den Match in Leverkusen vor, es ist der letzte in einer Bundesligasaison, die sie mit 15 Punkten Vorsprung als Meister abschliessen. Auf einem kleinen Block hat er sich in Stichworten notiert, was er der Mannschaft sagen will. In diesen Tagen hat er sie zufällig wieder gefunden. Er erinnert die Spieler daran, dass jeder gefordert ist, dass es um den Zusammenhalt geht, denn er erkennt die Gefahr, dass hier etwas auseinanderfallen kann. Darum geht es ihm um diese eine Frage: «Sind wir ein Team?»

Er will verhindern, dass einer auf den anderen losgeht. Nur Scholl hat über Matthäus gelästert: «Der verdrückt sich immer.» Matthäus ist in der 80. Minute vom Platz gegangen, völlig entkräftet mit seinen 38 Jahren. Hitzfeld macht ihm deshalb keinen Vorwurf. Er ist auch nicht bereit, die Fassung zu verlieren. Das ist nie seine Art gewesen – auch jetzt nicht, bei der schlimmsten seiner total 221 Niederlagen. Seine Enttäuschung über die Niederlage artet nicht in Frust aus. Vielmehr legt er Wert auf das Erscheinungsbild seiner Mannschaft gegen Leverkusen. Sie setzt sich 2:1 durch.

Zwei Jahre nach dem Abend von Barcelona steht sie wieder im Champions-League-Final. Diesmal gewinnt sie gegen Valencia im Elfmeterschiessen. «Der Final von Barcelona ist dafür eine gute Erfahrung gewesen», sagt Ottmar Hitzfeld, «auch wenn ich darauf hätte verzichten können.»

Hören Sie unseren Fussball-Podcast «Dritte Halbzeit»

Die Sendung ist zu hören auf Spotify, bei Apple Podcasts oder direkt hier: