Kommentar zur Video-AppDie irrationale Angst vor Tiktok
Bei Instagram und Snapchat pfeifen wir auf den Datenschutz, bei Tiktok werden wir hellhörig. Das hat viel mit unserem Verständnis von China zu tun.
Eine App aus einem totalitären Staat vernetzt uns. Tiktok, Chinas erster globaler Softwareerfolg, hat in der westlichen Welt eingeschlagen. Momentan ist es weltweit die App mit der am schnellsten wachsenden Nutzerschaft. Eine halbe Million Schweizerinnen und Schweizer schauen sich die kurzen Videos auf der Plattform an, vor allem Teenager.
95 Prozent der 12- bis 14-Jährigen haben laut einer Umfrage die chinesische App heruntergeladen. Sogar das Bundesamt für Gesundheit wirbt seit neustem auf Tiktok: Darsteller Wuschu tanzt und fordert dazu auf, die Covid-App herunterzuladen.
Tiktok ist zu einer harten Konkurrenz der amerikanischen Giganten Facebook, Instagram und Snapchat geworden. Aber wie Social Media generell sieht sich auch die chinesische App immer mehr Kritik ausgesetzt. Das Unternehmen Bytedance, dem Tiktok gehört, soll gezielt die Reichweite von Videos einschränken, die sich beispielsweise um Übergewichtige, Menschen mit Beeinträchtigung oder um die LGBTIQ-Bewegung drehen. Der britische «Guardian» veröffentlichte zudem Dokumente, die belegen, dass Tiktok Inhalte wie Videos zur Unabhängigkeit Tibets unterdrückte.
Jetzt bremsen verschiedene Länder Tiktok aus, jedoch nicht aus ethischen oder datenschutzrechtlichen Gründen, sondern aus politischen. Die indische Regierung hat die App verboten, nachdem ein Grenzkonflikt mit China ausartete. US-Präsident Trump sprach von einem möglichen Verbot von Tiktok, um China wegen des Coronavirus zu bestrafen. Ähnlich ist er auch schon gegen den Smartphone-Hersteller Huawei vorgegangen.
In der neutralen Schweiz darf Tiktok nicht zum politischen Spielball werden.
Dass der eidgenössische Datenschützer derzeit keinen Anlass für ein Tiktok-Verbot sieht, macht Sinn. Denn wenn die Schweiz die App verbieten würde, würde sie nicht mit gleichen Ellen messen. Digital-Anwalt Martin Steiger sagt, es gebe erst einmal keinen Grund, chinesische und amerikanische Apps bezüglich Datenschutz verschieden einzuschätzen. Und: «Tiktok ist ein Vehikel, um China zu kritisieren.»
Dass wir bei Facebook unbeschwert die Nutzungsbestimmungen abhaken und gleichzeitig Tiktok Spionage vorwerfen, ist widersprüchlich. In der neutralen Schweiz darf Tiktok nicht zum politischen Spielball werden.
Wenn die Schweiz etwas für einen besseren Datenschutz tun will, müsste sie gegen alle sozialen Medien vorgehen. Die Anbieter verdienen ihr Geld alle mit unseren Daten. Jugendschutz, Privatsphäre, Spionage – das alles muss hinterfragt werden, mit den gleichen Massstäben. «Es ist sehr wahrscheinlich, dass die chinesischen Behörden an die Daten von Tiktok rankommen», sagt Social-Media-Experte Philippe Wampfler. Doch das sei auch beim amerikanischen Geheimdienst der Fall. Verschiedene Länder könnten wahrscheinlich schon heute unsere Daten aus den sozialen Medien nutzen, wenn es beispielsweise darum geht, ein Visum zu bekommen.
Philippe Wampfler sieht im jungen Alter der Hauptzielgruppe einen weiteren Grund für die überzogene Kritik. Erwachsene hätten nun gute Gründe, zu sagen: «Tiktok ist ganz schlimm.» Dabei setzten sich ihre Kinder keiner grösseren Gefahr aus, als wenn sie ihre Daten auf Instagram oder Facebook preisgeben.
Die Schweiz muss sowohl die Vorwürfe gegen Facebook als auch jene gegen Tiktok ernst nehmen. Wo die App entwickelt wurde, darf dabei jedoch keine Rolle spielen.
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