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Analyse zum EU-Gipfel
Die EU verspielt im Westbalkan eine Erfolgsgeschichte

Eine historische Aufnahme vom Fall des Eisernen Vorhangs: Österreichs damaliger Aussenminister Alois Mock durchschneidet mit Ungarns Guyla Horn 1989 den Grenzzaun zwischen den beiden Ländern.
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Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirbt heute in Slowenien am EU-Gipfel mit den Staaten des Westbalkans für ein klares Bekenntnis zur Integration Serbiens, Montenegros, Nordmazedoniens, Albaniens, Bosniens und Kosovos: «Wir sind eine europäische Familie». Eine Aufnahme der Länder in die EU sei gut für den Westbalkan, aber auch gut für die EU.

Die Erweiterung der EU, lange eine Erfolgsgeschichte, kommt aber nicht voran. Bisher liefen Gespräche nur mit Serbien und Montenegro, allerdings ohne Aussicht auf ein absehbares Ende. Am Gipfeltreffen wird die Beitrittsperspektive für die sechs Länder zwar bekräftigt. Ein konkretes Datum für einen Abschluss von Verhandlungen wird aber keine Mehrheit finden.

Die Erfolgsgeschichte

Vor dem Treffen mit den Balkanstaaten: Gruppenbild der Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Slowenien. 

Wie sähe Europa heute aus, wenn die EU nach dem Ende des Kalten Krieges die Staaten des ehemaligen Ostblocks nicht aufgenommen hätte? Möglicherweise hätte ihnen dasselbe Schicksal gedroht wie der Ukraine, Georgien oder Moldawien, irgendwo im Schwebezustand zwischen einem freiheitlichen Europa und einem autoritären Russland. Die Transformation nach dem Ende der kommunistischen Ära wäre jedenfalls weniger glatt verlaufen. Die Erweiterungsstrategie galt lange als die Erfolgsgeschichte. Wobei die Erweiterung für westeuropäische Firmen mit Blick auf den Binnenmarkt auch ein gutes Geschäft war.

Längst ist jedoch die Stimmung gekippt, Schattenseiten vom Lohndumping bis hin zu den langwierigen Entscheidungsprozessen in einem Club mit inzwischen 27 Mitgliedsstaaten sind in den Vordergrund gerückt. In den Mitgliedsstaaten dominiert die sogenannte Erweiterungsmüdigkeit. In den Kandidatenländern fühlt man sich hingehalten, und der Eindruck dominiert, dass die EU es mit der Beitrittsperspektive nicht ernst meint.

Die Erweiterungsmüdigkeit

Er scheut am Gipfel in Slowenien das Thema Erweiterung, auch mit Blick auf seine Wiederwahl im nächsten Jahr: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.  

Wer soll alles dazugehören können, wie weit will die EU expandieren? Es rächt sich, dass die Strategie nach dem Ende des Kalten Krieges ohne klares Ziel beschlossen wurde. Mit der Türkei wurden 2005 Beitrittsverhandlungen eröffnet, liegen inzwischen aber auf Eis. Den Balkanstaaten Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo wurde 2003 in Thessaloniki ein Beitritt in Aussicht gestellt. Verhandlungen liefen bisher erst mit Serbien und Montenegro und kommen nicht voran.

Doch auch die Ukraine, Georgien und Moldawien machen sich Hoffnungen. Hier spricht die EU bewusst vage nur von einer «europäischen Perspektive», zu gross ist die Uneinigkeit unter den Mitgliedsstaaten. Immerhin, für die Balkanländer hat die EU die Beitrittsperspektive am Gipfel nun bekräftigt. Die schrittweise Abschaffung des Roaming oder neue Investitionen in der Höhe von 30 Milliarden Euro sind der Trostpreis und sollen unterstreichen, dass die EU es ernst meint. Sloweniens Forderung, bis zum Zieldatum 2030 die Verhandlungen mit den Balkanstaaten abzuschliessen, fand aber keine Unterstützung.

Abschreckende Beispiele

Im Dauerkonflikt mit Brüssel über die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit: Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Ungarns Viktor Orban.  

Weshalb ist die Erfolgsgeschichte verblasst? Beitrittskandidaten müssen Tausende Seiten EU-Recht übernehmen und beweisen, dass sie Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie gefestigt haben. Nach dem Fall des Eisernen Vorgangs riefen einige das Ende der Geschichte aus, sahen Rechtsstaat und liberale Demokratie auf unaufhaltsamem Vormarsch. Dass ein Land wieder «rückfällig» werden könnte, wollte sich niemand vorstellen beziehungsweise war schlicht nicht vorgesehen. Rechtsnationale Regierungen in Warschau und Budapest sind aber dabei, Demokratie und Rechtsstaat abzuwickeln.

In Ungarn und Polen bestehen Gewaltenteilung und Medienfreiheit zum Teil nur noch auf dem Papier. Auch Bulgarien und Rumänien haben Mindeststandards beim Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität immer noch nicht erreicht. Einen Viktor Orban kann die EU verkraften, aber zwei oder drei Regierungschefs im Stil des autoritären Regierungschefs Ungarns würden den Laden ganz lahmlegen. Ungarn und Polen machen Negativwerbung für weitere Erweiterungsschritte.

Geschönte Berichte

Trotz Rückschritten bei Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen lobt Serbiens Präsident Aleksander Vucic für Reformen.  

Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat bei einem Besuch in Belgrad Serbiens Präsident Aleksander Vucic für die «Fortschritte» bei den Reformen in Serbien gelobt. Ähnlich zuvor die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer Balkanabschiedstour. Dabei hat Serbiens starker Mann sich gerade erst über den «Rechtsstaatsjihadismus» der EU lustig gemacht hat. Tatsächlich hat Serbiens Führung zuletzt vor allem Rückschritte bei Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit verzeichnet und bisher etwa auch keine Hand geboten, um die Beziehungen mit Kosovo zu normalisieren.

Der Glaubwürdigkeit der EU schadet auch, dass fünf Mitgliedsstaaten nach wie vor Kosovo nicht als Staat anerkennen und Kosovo als einziges Land bislang nicht von der Visafreiheit profitiert. Als «Garant für Stabilität» belohnt wird dafür Vucic, der offen mit den autoritären Regimes in Moskau und Peking sympathisiert. Für die EU-Kommission scheint die Erweiterung schon fast Selbstzweck zu sein. Parallelen zu den Verhandlungen mit der Schweiz zum Rahmenabkommen drängen sich auf. Probleme werden in den jährlichen Brüsseler Fortschrittsberichten eher beschönigt als beleuchtet.

Das hat das Misstrauen in den Mitgliedsstaaten gegenüber dem Erweiterungsprozess verstärkt. Problematisch ist zudem die Rolle von Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi, Anhänger und Statthalter von Ungarns Viktor Orban in Brüssel. Varhelyi würde Serbien ungeachtet der Defizite lieber heute als morgen aufnehmen.

Die Lösungen

Blockade durch Bulgarien: Nordmazedonien wartet seit einem Jahr vergeblich auf den Start der EU-Beitrittsverhandlungen.  

Für die EU mit ihren geopolitischen Ambitionen droht die Erweiterung zur doppelten Blamage zu werden. Die EU ist zwar mit grossem Abstand wichtigster Geldgeber auf dem Balkan, europäische Unternehmen dort die grössten Investoren. Und trotzdem können Russland, China und die Türkei das politische Vakuum in der Region praktisch ungehindert nutzen. Diese Woche hat sogar US-Präsident Joe Biden im Telefonat mit Ursula von der Leyen angemahnt, die Beitrittsverhandlungen mit Skopje und Tirana bald aufzunehmen.

Diese sind blockiert, weil Bulgarien aus innenpolitischen Gründen seit einem Jahr im Alleingang die Gespräche mit Nordmazedonien per Veto verhindert. Dabei hat der Kleinstaat schon aus Rücksicht auf Griechenland seinen Namen ändern müssen. Statt einstimmig sollte die EU deshalb künftig mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, ob Verhandlungen aufgenommen oder einzelne Kapitel geöffnet beziehungsweise geschlossen werden.

Interessant auch die Idee der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), einer Berliner Denkfabrik, Beitrittskandidaten ähnlich wie einst die skandinavischen Staaten und Österreich in einem ersten Schritt im EWR als «Trainingslager» am Binnenmarkt teilhaben zu lassen. Mitbestimmen beziehungsweise bei Ministerräten und EU-Gipfeln am Tisch sitzen könnten die Kandidatenländer erst in einem zweiten Schritt. Die EU könnte die Zeit nutzen, um ihre Entscheidungsprozesse zu überdenken, damit der Club auch mit 30 und mehr Mitgliedern noch handlungsfähig sein wird.