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Wahlkampf in den Swing-States
Die Entscheidung fällt im Altersheim

Worauf sich die Menschen in Sarasota einigen können: Sonne, Strand, Meer. Alles andere? Ansichtssache.
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Als der pensionierte Priester Michael Povey von Massachusetts runter nach Florida zog, um seinen Lebensabend zu geniessen, konnte er nicht wissen, dass er in einer Stadt landen würde, die auf eigentümliche Weise mit dem Aufstieg des Donald J. Trump verbunden sein würde.

Povey hatte Florida nie gemocht, der ewige Sonnenschein, das Pastellige, das Feuchte, das «Altersheim» der Nation. Aber als er im Januar 2006 Freunde in Sarasota besuchte, dachte er, dieses Städtchen von 58’000 Einwohnern sei vielleicht gar nicht so übel. Im Juni desselben Jahres zog er um, und seither lebt er in einer Siedlung, die den Vorteil hat, recht günstig zu sein, und den Nachteil, dass man sich jederzeit sehr konzentrieren muss, um das eigene Haus zu finden, weil die Erbauer sich offenkundig überlegt hatten, dass es eine gute Idee sei, Hunderte Male das exakt gleiche Haus vor die exakt gleiche Auffahrt zu stellen.

Priester Michael Povey wählt Joe Biden, ist aber nicht sicher, ob der Demokrat das Rennen machen wird. 

Swing-State Florida

Die Wahlen am 3. November werden in wenigen Bundesstaaten entschieden, in Pennsylvania, Wisconsin oder Michigan zum Beispiel – und eben in Florida. Die Demokraten könnten immer noch gewinnen, wenn Florida erneut an Trumps Republikaner fiele, aber wenn sie den Staat tatsächlich erobern könnten, dann stünde die Tür zum Weissen Haus weit offen für ihren Kandidaten Joe Biden. Präsidentschaftswahlen in Florida gehen notorisch knapp aus, es kommt, so abgedroschen das klingt, auf jede Stimme an. Der Staat hat 21,5 Millionen Einwohner. 2016 gewann Trump mit einem Vorsprung von gerade mal 113’000 Stimmen. Die als zuverlässig geltende Website Real Clear Politics sieht Biden in nationalen Umfragen mit durchschnittlich 9 Prozentpunkten vorne. In Florida beträgt der Vorsprung derzeit hingegen nur 3,5 Prozent.

Als ehemaliger Prediger hat Povey noch immer ein Sensorium für die Stimmung im Ort. Er hat, obwohl er als Ruheständler nach Sarasota kam, zehn Jahre lang ehrenamtlich in einer Gemeinde als Aushilfspriester gearbeitet, er kennt, nun ja, Gott und die Welt in der Stadt. Auf die Frage, wer seinem Gefühl nach in Sarasota das Rennen macht, sagt Povey: «Ich habe nicht die leiseste Ahnung.»

Das liegt daran, dass Sarasota im Kleinen so unberechenbar ist wie Florida im Grossen. Im Grundsatz neigt die Gegend den Republikanern zu, aber 2008 hat der Demokrat Barack Obama mit lediglich 211 Stimmen Rückstand verloren. Joe Biden ist hier keineswegs chancenlos. Poveys Stimme hat der demokratische Kandidat sicher. Allerdings würde Povey eher für einen rostigen Hamsterkäfig stimmen als für Trump. Eine Gemütslage, die er mit vielen Demokraten im Ort teilt.

Dystopische Demokraten

Zum Beispiel mit der 70 Jahre alten Anwältin Susan Chapman. Wie die meisten Demokraten in Sarasota nimmt sie das Coronavirus ernst (dem Gros der Republikaner ist es völlig schnuppe), weshalb sie den Besucher am anderen Ende eines fünf Meter langen Tischs platziert. Aus der sicheren Entfernung entwirft sie mit leiser Stimme und ausladender Gestik das Bild eines untergehenden Landes, eine Schilderung, die in den Satz mündet: «Es fühlt sich an wie Rom, kurz bevor Rom fiel.»

«Unter einer dünnen Schicht lauert der tiefe Süden mit all seinen Vorurteilen, und der tritt immer entschiedener und offener nach oben.»

Susan Chapman, Anwältin

Viele Demokraten sind besorgt, aber was Chapman erzählt, hat eine besonders dunkle Färbung. «Ich bereite mich auf einen Bürgerkrieg vor», sagt sie, «ich lese seit Wochen Bücher über den Widerstand. Zum Beispiel über den Widerstand gegen Hitler.» An der Oberfläche sei Sarasota eine freundliche Gemeinde, geprägt von Kunst, sagt Chapman. «Aber unter einer dünnen Schicht lauert der tiefe Süden mit all seinen Vorurteilen, und der tritt immer entschiedener und offener nach oben.»

Anwältin Susan Chapman sagt: «Ich bereite mich auf einen Bürgerkrieg vor.»

Wenn einem nach weniger dystopischen Gesprächen zumute ist, muss man sich bei den Republikanern im Ort umhören. Martin Hyde hat vier Trump-Schilder in seinem Vorgarten aufgepflanzt. Ursprünglich war es nur eines, aber nachdem das geklaut worden war, stellte er vier auf. Und wenn die geklaut werden, sagt er, wird er 16 Schilder aufstellen. Dabei ist er gar nicht mal ein Fan von Trump. «Dieser Mann sollte nicht Präsident sein», sagt er, «er war mehrmals bankrott, er ist zum dritten Mal verheiratet, und er hat bekanntlich gesagt, er könne Frauen nach Belieben an die Muschi fassen. Aber die Alternative ist unwählbar.» «Warum?» Hyde sagt: «Joe Biden lebt in einem Keller und ist vielleicht dement.»

Martin Hyde ist sicher, dass sich bei den Wahlen das Phänomen von 2016 wiederholt. Die Demokraten führen in den Umfragen? «Völlig unerheblich», sagt er, «ich schätze, dass es ungefähr 12 Prozent stiller Trump-Wähler gibt, die von den Umfragen nicht erfasst werden.» Woher er diese Zahl hat, sagt er nicht, aber in der Tat berichten viele Medien über das unsichtbare Reservoir an Trump-Wählern.

Martin Hyde hat vier Trump-Schilder in seinem Garten. 

Hydes Freund Jose Fernandez glaubt sogar an einen Erdrutschsieg der Republikaner. Seine Familie ist 1962 aus Kuba in die USA eingewandert. Fernandez gehört zur für Trump wohl wichtigsten Wählergruppe des Bundesstaates. Die Mehrheit der Latinos unterstützt die Demokraten, aber die Mehrheit der kubanischstämmiger Amerikaner stimmt für die Republikaner. Das hat unter anderem damit zu tun, wie Fernandez sagt, dass sie einem sozialistischen Staat entkommen seien und deshalb immer für das Gegenteil votieren würden.

Die Maske neben der Pistole

Fernandez ist Fragen gegenüber zugänglicher als Hyde. Deshalb also diese: Heisst das nicht, dass die gebürtigen Kubaner für einen Mann stimmen, der sich mit Autokraten versteht, der Menschen aus Lateinamerika verunglimpft, der gegen Einwanderer wettert? «Wir stimmen für einen Mann, der Amerika immer an die erste Stelle setzt», sagt Fernandez. Und als wäre es nicht klar geworden, schiebt er hinterher: «Ich halte auch viel von Donald Trump persönlich.»

Wie viele Kubaner der älteren Generation ist Fernandez so amerikanisch geworden, wie es nur geht. Das kleinste Beispiel dafür ist, dass er die Akzente in der Schreibweise seines Namens gestrichen hat. Er glaube daran, sagt er, dass der amerikanische Traum für jeden greifbar sei, der sich bemühe, der arbeite. Und alle anderen müssten sehen, wo sie blieben.

«Sich um andere zu kümmern?», fragt er und antwortet selbst: «Nein. Das liegt nicht in der menschlichen Natur. Jeder muss es für sich schaffen. Wenn du ein Problem hast, löse es.» Seiner Ansicht nach solle der Staat sich aus allem raushalten. Wer keine Krankenversicherung habe, der habe eben keine. Ausser, das schränkt er ein, man sei körperlich oder geistig behindert – dann solle der Staat helfen. Aber nur dann. «Ich habe es auch allein geschafft», sagt er, «und ich habe mit nichts angefangen.»

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Fernandez erzählt, er habe Luftfahrttechnik studiert und anschliessend vor allem für ein Chemieunternehmen gearbeitet. Dabei sei er wohlhabend geworden. «Letztlich geht es um persönliche Verantwortung», sagt er, «und das gilt auch für das Virus. Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie ich mich zu verhalten habe.» Die Maske, die er neben sein Telefon auf den Tisch gelegt hat? «Kommt gleich wieder ins Handschuhfach meines Autos», sagt er und fügt, gewissermassen als Pointe all seiner Ausführungen an: «Gleich neben die Pistole.»

Ein bepinselter Elefant

Die Anwältin Susan Chapman seufzt, als sie von Fernandez’ Ausführungen hört. «Das Problem aus demokratischer Sicht ist, dass die Kubaner Superwähler sind», sagt sie, «viele Latinos wählen nicht, aber die Kubaner wählen alle.» Es ist eine kleine Stadt, sie kennt Fernandez. «Er ist so ein lieber Kerl, aber seine politischen Ansichten sind grauenvoll.» Und noch etwas sagt sie zum Abschied: «Vergessen Sie nie, dass Sarasota eine Zirkusstadt ist. Vieles hier ist surreal.»

Was sie meint: Im Jahr 1927 hatte der landesweit bekannte «Ringling Bros. & Barnum and Bailey Circus» sein Winterquartier nach Sarasota verlegt. Bekannt war der Zirkus unter anderem dafür, dass sogenannte Freaks auftraten, also kleinwüchsige oder gross gewachsene Menschen. Frauen mit Bart. Männer voller Tätowierungen. Ausserdem gab es, wichtig, die Elefantennummern. In gewisser Weise scheinen beide Aspekte, das Präsentieren von ungewöhnlichen Menschen und von Elefanten, die Stadt bis heute nicht loszulassen.

Im Jahr 2012 beschloss der Vorsitzende der örtlichen Republikaner, Trump den Titel «Sarasota Staatsmann des Jahres» zu verleihen. Als Trump für die Präsidentschaft kandidierte, trat er 2015 in der Stadt auf. Währenddessen schritt ein leibhaftiger Elefant durch die Strassen, auf dessen Körper in Grossbuchstaben gepinselt stand: «Trump – Make America Great Again.» Jetzt war der Zirkus wirklich zurück.

Während des Wahlkampfs 2015 schritt ein Trump-Elefant durch die Strassen von Sarasota.

Da Michael Povey von abgründigem Humor durchdrungen ist und der Elefant das Symbol der republikanischen Partei darstellt, müssen einige durchgeknallte Fragen an den ehemaligen Priester erlaubt sein: Sind hier besondere Kräfte am Werk? Zieht sich ein Faden durch die Geschichte dieses Ortes, der auf, sagen wir mal, luziferische Weise schon immer auf den elefantösen Donald Trump hingewebt war? Povey lächelt und sagt: «Ich formuliere es so: Er verkörpert die dunklen Aspekte unserer Persönlichkeit.»

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