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Debatte um Schweiz im Ukraine-Krieg
Burkart und Pfister definieren die Neutralität neu

Gerhard Pfister, Präsident der Mitte, und Thierry Burkart, Präsident der FDP, verschieben im Moment den Schweizer Neutralitätsbegriff.
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Es war eine bewegte Woche für unseren Bundespräsidenten. Cassis on Tour. Am Dienstag Treffen mit der Vizepräsidentin der EU-Kommission. Am Mittwoch in Genf nach der Bundesratssitzung extra muros ein Bad in der Menge. Am Donnerstag ein Besuch bei Premierminister Boris Johnson in London inklusive Audienz bei der Queen.

Tack, tack, tack.

Es war eine recht beispielhafte Woche für Ignazio Cassis. Er ist mal hier, er ist mal da. Immer unterwegs. Geografisch, inhaltlich.

«Die Welt findet im Bundesrat gerade nicht statt.»

Gerhard Pfister

«Die Arbeitsweise des Bundesrats ist ein grosses Problem in dieser Krise.» Mitte-Präsident Gerhard Pfister sitzt in einem Café beim Luzerner Bahnhof, er kommt von einem Vortrag über die Schweiz in Zeiten von Pandemie und Ukraine-Krieg. «In der Welt passiert eben fundamental Neues. Und der Bundesrat macht einfach weiter wie normal. Er behandelt den Krieg in der Ukraine wie eine Weiterentwicklung der Agrarpolitik. Mit Mitberichten und Ämterkonsultationen.» Die Welt, sagt Pfister, sie finde im Bundesrat gerade nicht statt.

Während der Corona-Krise habe der Bundesrat mit Gesundheitsminister Alain Berset durch die Krise geführt. Nicht alles sei gut gewesen, bewahre, aber die Regierung habe ihre Verantwortung wahrgenommen. Heute: eher weniger. Der Bundesrat sei während des Ukraine-Kriegs nicht spürbar, sagt Pfister.

In die Lücke

Es ist eine Lücke entstanden, mitten in der Schweizer Politik, und diese Lücke wird nun von anderen ausgefüllt. Von Pfister beispielsweise. Zu Beginn der Woche hat er einen Tweet abgesetzt. Das macht er oft, und meistens hat das ausser ein paar gehässigen Reaktionen keine weiteren Konsequenzen. Dieses Mal war es anders. Pfister schlug vor, dass der Bundesrat die Lieferung von Schweizer Munition via Deutschland in die Ukraine erlauben solle. «Die Schweiz hat ein vitales Interesse, dass die Ukraine nicht fällt. In Kiew werden auch wir verteidigt.»

Es war ein Tabubruch. Eigentlich. Aber es fühlte sich nicht wie ein Tabubruch an. Wer genau zuhört, der erkennt seit einigen Wochen eine fundamentale Veränderung des Schweizer Neutralitätsbegriffs. Treiber dieser Entwicklung sind Mitte-Präsident Gerhard Pfister und mehr noch Thierry Burkart, der Präsident der FDP. «Er kommt von der Sicherheitspolitik her, ich eher von der Überzeugung, dass die wertfreie Globalisierung, wie wir sie leben, nicht mehr funktioniert. Bei der Neutralität treffen wir uns», sagt Pfister.

«Im Moment reduziert sich die Schweizer Neutralität auf ihren militärischen Kerngehalt.»

Thierry Burkart

Beide, Pfister und Burkart, halten eine Diskussion über den Schweizer Neutralitätsbegriff für dringend nötig. Beide finden, dass vom Bundesrat in diesem Thema zu wenig kommt, und beide haben schon jetzt eine recht klare Idee, was Schweizer Neutralität im Jahr 2022 bedeuten sollte.

«Im Moment reduziert sich die Schweizer Neutralität auf ihren militärischen Kerngehalt», sagt Thierry Burkart. Sprich: Die Schweizer Armee marschiert nicht in der Ukraine ein. Die Schweiz liefert auch keine Waffen direkt ins Kriegsgebiet. Alles andere: mit der Neutralität vereinbar. Burkart findet, wie Pfister, dass es statthaft wäre, wenn Drittländer Munition und Waffen in die Ukraine liefern, die sie in der Schweiz gekauft haben – ausser es handelt sich um gezielte Umgehungsgeschäfte.

Geografie, Werte, Völkerrecht

Wie weit oder wie eng die Schweizer Neutralitätspolitik gefasst wird, definiert sich für den FDP-Präsidenten über drei Komponenten: die Geografie, den Wertekompass, das Völkerrecht. Würde beispielsweise ein Krieg zwischen zwei westeuropäischen Staaten stattfinden, müsste die Schweizer Neutralität sehr strikt gelten. Je weiter weg ein Konflikt, desto eher kann die Schweiz Partei ergreifen. Sie muss sogar, wenn die eigenen Werte bedroht sind und das Völkerrecht gebrochen wird – wie momentan im Krieg in der Ukraine. «Darum unterstützen wir die Sanktionen, darum dürfen wir nicht schweigen, wenn Kriegsverbrechen begangen werden», sagt Burkart.

Er hat schon in früheren Aussagen angedeutet, wie weit die FDP bereit ist zu gehen. Eine Annäherung an die Nato, wie Burkart in einem Interview mit dieser Zeitung vor kurzem gefordert hat, wäre noch vor ein paar Jahren in seiner Partei hoch umstritten gewesen. Heute seien die Reaktionen ausnahmslos positiv.

Dass sich die Schweiz noch besser mit der Nato absprechen soll, ist auch für Gerhard Pfister klar – er teilt die Haltung von Thierry Burkart. «Wir müssen ernsthaft darüber reden, wie unser Beitrag aussieht, sollte uns die Nato tatsächlich einmal verteidigen. Indirekt macht sie das ja heute schon.»

Das Ende der Neutralität?

Eine Annäherung an die Nato. Waffen und Munition, die (indirekt) in Kriegsgebiete geliefert werden. Ist das am Schluss nicht das Ende der Schweizer Neutralität?

Nein, sagt Pfister. Nein, sagt Burkart. «Die Neutralität darf einfach nicht zu starr definiert werden», argumentiert der FDP-Präsident. «Schon 1847, als unsere Verfassung entworfen wurde, hat man darüber gestritten, ob der Neutralitätsbegriff in den Zweckartikel soll. Am Schluss haben die Verfassungsväter darauf verzichtet, weil man flexibel bleiben wollte. Das war eine gute Entscheidung.»

«Wichtig sind heute die Verteidigung der Demokratie und eine europäische Sicherheitspolitik; ob dafür noch die Bezeichnung ‹neutral› verwendet wird, spielt keine grosse Rolle.»

Historiker Jakob Tanner

Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Schweizer Neutralitätskonzeption neu verhandelt wird. Historiker Jakob Tanner erinnert an die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die Schweizer Neutralität verstärkt moralisch bewertet wurde. Das humanitäre Engagement der Schweiz und das Wirken des Roten Kreuzes wurden überblendet durch den Profit am Krieg. «Die Bewertungsparameter der Neutralität verändern sich im Moment wieder», sagt Tanner. Die Ukraine führe einen Krieg, der aus völkerrechtlicher Sicht gerechtfertigt sei. «Eine ‹neutral = egal›-Haltung wirkt da völlig deplatziert.» Die aktuelle Situation werde die Neutralitätskonzeption auf eine lange Zeit verändern. «Wichtig sind heute die Verteidigung der Demokratie und eine europäische Sicherheitspolitik; ob dafür noch die Bezeichnung ‹neutral› verwendet wird, spielt keine grosse Rolle», sagt Tanner.

Der Militärhistoriker Rudolf Jaun wiederum sieht eine Parallele zu den 1950er-Jahren. Damals, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs verblassten langsam, wurde in der Schweiz der Ruf nach Abrüstung lauter. 1956 wurde die sogenannte Chevallier-Initiative eingereicht, die eine massive Reduktion der Rüstungsausgaben verlangte. Doch im November 1956 schlug die Sowjetarmee den Volksaufstand in Ungarn nieder, und die Stimmung in der Schweiz kippte – schon wenige Wochen später zogen die Initianten ihre Initiative zurück. Statt abzurüsten, rüstete die Schweiz mit der Bestellung von Schützenpanzern, Panzern und dem Kampfjet Mirage für fast zwei Milliarden auf.

Nach dem Ende des Kalten Krieges reduzierte die Schweiz ihre Militärausgaben erneut – man sprach von der «Friedensdividende». «Das war ein klarer Erfolg der Linken», sagt Jaun. Doch jetzt, nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, schlage das Pendel auf die andere Seite aus.

Die Schwäche der anderen

Der FDP – und auch der Mitte – nützt dabei im Moment die Verfassung der politischen Mitkonkurrenten. Rechts von Burkart und Pfister beklagt die SVP, dass sich der Bundesrat gegen ihren Willen den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat. Christoph Blocher versucht nun, mit einer neuen Volksinitiative eine extrem rigide Vorstellung einer «integralen Neutralität» in die Bundesverfassung zu schreiben – gemäss dieser dürfte die Schweiz nicht einmal mehr Sanktionen ergreifen.

Nicht minder in der Defensive stehen links die SP und die Grünen. Der Kriegsausbruch hat ihre aussen- und sicherheitspolitische Gestaltungskraft geschwächt. Stattdessen müssen sie ständig ihre armeekritischen Parteiprogramme und die laufende Unterschriftensammlung gegen die Beschaffung des US-Kampfjets ​F-35 rechtfertigen. 

Kritik von links

Mattea Meyer, die Co-Präsidentin der SP, registriert ebenfalls, dass bei den Mitteparteien politisch etwas ins Rutschen kommt. Inhaltlich lehnt sie die Vorschläge von Burkart und Pfister dezidiert ab. Waffenlieferungen an die Ukraine, wenigstens indirekte? «Das Neutralitätsrecht verbietet militärische Eingriffe in jeder Form. Und das Kriegsmaterialgesetz wurde zu Recht vor kurzem verschärft, mit Unterstützung der Mitte.» Eine Annäherung an die Nato? «Das ist viel Wind um nichts.» Die Sicherheit der Schweiz hänge nicht von der Nato ab, sondern von der EU, sagt Meyer. Denn Sicherheitspolitik sei mehr als Militär. Zum Beispiel auch: Versorgungssicherheit, etwa betreffend Energie.

Meyer wirft Burkart und Pfister vor, sich auf Nebenschauplätzen zu verlieren. «Der wahre Hebel, den die Schweiz gegen Russland hätte, liegt auf dem Schweizer Finanzplatz, beim Rohstoffhandel.» Die Schweizer Gesetze in diesen Bereichen seien derart lasch, dass Autokratien wie Russland hier «in Friedenszeiten Milliarden verdienen, mit denen sie dann später Krieg führen. Neutralität beginnt weit vor dem Krieg.» Darum müsse die Schweiz endlich den Rohstoffhandel regulieren, die Transparenz bei Briefkastenfirmen verstärken und das Geldwäschereigesetz verschärfen. «Doch dabei haben FDP und Mitte bisher nie mitgeholfen.»

Nichtsdestotrotz: Nicht nur der Militärhistoriker Rudolf Jaun beobachtet, dass die jahrelang unverrückbar breit unterstützte Neutralitätspolitik in Bewegung gerät: Neben der sich versteifenden orthodoxen Position der SVP zeichnen sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges Flexibilisierungstendenzen ab. 

Es entsteht gerade eine neue Neutralität. Und führend dabei: nicht der Bundesrat, nicht die grösste und nicht die zweitgrösste Partei. Sondern die bürgerliche Mitte. 

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