Kommentar zu Neutralität und Ukraine-KriegWaffenexporte nach Kiew sind falsch. Die Frage ist nur: Wie lange noch?
Mit seinem Ruf nach Schweizer Munitionslieferungen verstösst Mitte-Präsident Gerhard Pfister gegen die Neutralität. Trotzdem muss man ihm für seinen Tabubruch danken.
Der illegale und unmenschliche Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine zerstört nicht nur die Sicherheitsordnung von Europa. Er pulverisiert auch die letzten politischen Gewissheiten, die man in der Schweiz noch zu haben glaubte.
Eindrücklich illustriert dies Gerhard Pfister. Der Präsident der Mitte-Partei, eigentlich ein Konservativer, plädiert neuerdings dafür, Munition aus Schweizer Produktion an die Ukraine zu liefern (lesen Sie hier mehr darüber). Diesen Tabubruch beging Pfister am Sonntagmorgen fast beiläufig in einer nur 270 Zeichen langen Nachricht auf Twitter.
Pfister weiss natürlich, dass Waffenexporte an einen kriegführenden Staat per Kriegsmaterialgesetz verboten sind. Immerhin hat er selber vor sechs Monaten im Parlament mitgeholfen, das Gesetz entsprechend zu verschärfen. Doch Pfister vertritt die Ansicht, dass der Bundesrat dieses Verbot jetzt per Notrechtsentscheid aushebeln könnte und sollte.
Einen Verstoss gegen die Neutralität mag Pfister darin nicht erkennen. Sie sei «auch deshalb eine ‹bewaffnete› Neutralität, gerade weil die Schweiz sich verteidigen darf und soll. Gegenwärtig wird sie in der Ukraine (mit-)verteidigt», argumentiert Pfister. Munitionslieferungen an die Ukraine lägen daher im Landesinteresse.
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In den sozialen Medien erhielt Pfister viel Applaus. Das ist durchaus verständlich. Auf Twitter regieren die Emotionen und nicht die Reflexion. Und welche Schweizerin, welcher Schweizer mit Herz und Verstand würde nicht wollen, dass der Ukraine jede denkbare Unterstützung zukommt?
Trotzdem liegt Pfister mit seiner Forderung falsch.
Es ist zwar richtig, dass die Neutralität der Schweiz politisch viel mehr Spielraum gibt, als gewisse Neutralitätsfetischisten, namentlich in der SVP, dies wahrhaben wollen. So sind etwa die vom Bundesrat beschlossenen Sanktionen gegen Russland sehr wohl kompatibel mit der Neutralität. Doch bei Waffenlieferungen hört der Interpretationsspielraum definitiv auf.
Das Neutralitätsrecht, festgeschrieben im Haager Abkommen von 1907, verbietet es den Neutralen, kriegführende Staaten mit Truppen zu unterstützen oder mit Waffen zu beliefern. Das mag man im Ukraine-Krieg richtig oder falsch finden. Aber es ist verbindliches Völkerrecht. Punkt.
Von Russland unterscheidet sich die Schweiz gerade dadurch, dass bei uns nicht Willkür regiert, sondern das Recht. Dazu gehört erstens, dass wir uns ans Völkerrecht halten – und dazu zählt im Fall der Schweiz ganz besonders das Neutralitätsrecht. Zweitens darf ein Rechtsstaat seine Gesetze nicht nach Lust und Laune mit Notrechtsbeschlüssen übersteuern, so wie Pfister das verlangt.
Diese rechtlichen Überlegungen könnte man allerhöchstens dann in den Wind schlagen, wenn der mögliche militärische Beitrag der Schweiz in der Ukraine kriegsentscheidend sein könnte. Doch auch das ist klar nicht der Fall.
Von Russland unterscheiden wir uns gerade dadurch, dass in der Schweiz nicht Willkür regiert, sondern das Recht.
Aus all diesen Gründen ist Pfisters Forderung politisch und rechtsstaatlich sehr fragwürdig – aber vielleicht nur kurzfristig. Denn mittelfristig stösst er damit eine wichtige Debatte an.
Der Ukraine-Krieg zwingt uns zum Positionsbezug: Ist Neutralität im 21. Jahrhundert moralisch und politisch überhaupt noch möglich – und wenn ja: wie? Kann die Schweiz neutral bleiben in einer Welt, die vor unseren Augen in zwei Blöcke verfällt? In eine Welt der Freiheit, des Rechts und der Demokratie. Und in eine Welt der Unfreiheit, des Unrechts und der Gewaltherrschaft, die von China und Russland angeführt wird.
Diese Spaltung, die durch den Ukraine-Krieg massiv beschleunigt wird, könnte die Schweiz schon bald zum Stellungsbezug nötigen. Und als Folge davon müsste sie in einem zweiten Schritt auch ihre Kriegsmaterialexporte neu ausrichten. Pfister hingegen zäumt das Pferd von hinten auf: Faktisch möchte er die Neutralität von den Waffenexporten her abschaffen.
Einen solch epochalen Richtungswechsel kann man nicht an einem Sonntagmorgen per Twitter-Nachricht einfordern – sondern erst nach einer seriösen Debatte.
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