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Meinung

Kommentar zur Corona-Krise
Die Bilanz der Bürgerlichen ist alles andere als glorios

Wie war das nochmals mit dem Abstandhalten? Am 1. Dezember gratulieren Mitglieder aller Fraktionen Bundesrat Ueli Maurer zum 70. Geburtstag.
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Es brauchte viel, um den Umschwung herbeizuführen. Das WEF musste bekannt geben, dass es nächstes Jahr wegen der unzumutbaren epidemiologischen Lage nicht in der Schweiz, sondern in Singapur tagen werde. Spitaldirektoren mussten öffentlich erklären, dem Gesundheitssystem drohe der Kollaps. Leiterinnen von Intensivstationen mussten erzählen, sie hätten noch nie so viele erschöpfte Pflegende, so viele weinende Ärztinnen und Ärzte gesehen.

Dass die Schweiz eine der höchsten Covid-Infektions- und Todesraten Europas aufweist und die Übersterblichkeit von Personen, die das Pensionsalter überschritten haben, bei 50 Prozent und höher liegt – das hatte zuvor einen Teil der Kantonsregierungen, die Wirtschaftsverbände und bürgerliche Parteien nicht davon abgehalten, sich gegen einschneidendere Massnahmen zu sperren. Nun jedoch ist vieles anders.

Das Ende des Zürcher Wegs

Die Regierung des Kantons Zürich, die zuvor einen eigenständigen «Zürcher Weg» propagiert hatte, forderte Massnahmen des Bundes und die landesweite Schliessung der Skigebiete. Die FDP des Kantons St. Gallen, die zuvor längere Ladenöffnungszeiten verlangt hatte, hielt selbst einen Lockdown über Weihnachten für denkbar.

«Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen, an dem wir nicht länger zuwarten dürfen», sagte Monika Rühl, die Direktorin des Wirtschaftsverbandes Economiesuisse, in der NZZ. Deren Chefredaktor, der noch Mitte November das längst gescheiterte schwedische Modell gelobt hatte, kam zur späten Einsicht: «Alle Länder, die zu Anfang der Seuche hart durchgegriffen haben, stehen besser da.»

Andreas Züllig, Präsident des Verbands Hotelleriesuisse, sagte in einem Gespräch mit der «SonntagsZeitung»: «Vermutlich hätte der Bundesrat schon Anfang November deutlich konsequenter eingreifen müssen.» Und: «Ich gebe im Nachhinein zu, dass wir die Lage falsch beurteilt haben.»

Ein Hauptgrund für das lange Zögern und dafür, dass die Massnahmen in der Schweiz auch jetzt noch weniger einschneidend sind als in den meisten anderen europäischen Ländern, liegt im Ansinnen, die Wirtschaft zu schonen. Es gibt jedoch Erkenntnisse, wonach das vermeintliche Dilemma zwischen Gesundheit und Ökonomie gar nicht existiert.

Lockdown schont Wirtschaft

Im Oktober hielt der Internationale Währungsfonds aufgrund mehrerer Studien fest: «Indem Lockdowns Infektionen unter Kontrolle bringen, bereiten sie den Weg für eine raschere wirtschaftliche Erholung, weil sich die Leute sicherer fühlen und deshalb wieder ihren normalen Aktivitäten nachgehen.»

Im selben Sinn äusserten sich Anfang November mehr als 60 Schweizer Ökonomen in einem offenen Brief an den Bundesrat. «Der oftmals übersehene Aspekt ist, dass in einer Situation mit starker Ausbreitung des Virus (wie in der Schweiz mit den relativ milden Massnahmen) die Gesundheitsrisiken zu Vorsorge- bis hin zu Panikreaktionen führen, die ein geregeltes Wirtschaftsleben ebenfalls unmöglich machen», schreiben sie.

Wunschtraum Herdenimmunität

Die Wirtschaft ist in Schweden im selben Ausmass eingebrochen wie in seinen skandinavischen Nachbarländern, obwohl es schon während der ersten Welle auf harte Massnahmen verzichtet hat. Die zweite Welle hat das gelobte Land der Lockdown-Kritiker dann härter erfasst als Dänemark, Norwegen und Finnland. Und genauso heftig wie die Europäische Union als Ganzes, womit sich auch die ursprünglich angestrebte Herdenimmunität als Wunschtraum herausgestellt hat.

Umgekehrt haben die Regierungen der beiden Länder, deren Wirtschaftsleistungen 2020 laut Prognosen der EU-Kommission mit einem Minus von gut 2 Prozent europaweit am wenigsten leiden, nämlich Irland und Litauen, während der ersten und zweiten Welle einen strengen Lockdown durchgesetzt.

«Je härter der Lockdown, desto mehr leidet die Wirtschaft» – das ist falsch.

Für das Ausmass des ökonomischen Einbruchs spielen natürlich auch andere Faktoren eine Rolle. Aber die Gleichung «Je härter der Lockdown, desto mehr leidet die Wirtschaft» – sie ist offensichtlich falsch.

In einer Jahrhundertkrise einschneidendere Massnahmen ablehnen, obwohl durch diese Haltung mehr Menschen sterben und das selbst gesetzte Ziel ökonomischer Linderung hintertrieben wird. Warnungen der bundesrätlichen Taskforce und von Wissenschaftlerinnen wie der Genfer Virologin Isabella Eckerle in den Wind schlagen, die am 2. Dezember auf Twitter schrieb: «Das grösste Hindernis bei der Pandemiebewältigung ist eine verzögerte Eindämmung steigender Fallzahlen und die Vorstellung, dass Pandemiekontrolle in Kliniken und auf Intensivstationen stattfindet.»

Und die eigene Position erst unter dem Eindruck verzweifelter Appelle des Gesundheitspersonals revidieren, dies dann aber von heute auf morgen – das ist für die wirtschaftsliberalen, bürgerlichen Kräfte der Schweiz alles andere als eine gloriose Bilanz.

Irrlichternde SP-Regierungsräte

Die Linke steht insofern besser da, als sie sich – abgesehen von einigen irrlichternden Figuren in kantonalen Exekutiven – relativ konsequent für griffigere Massnahmen und gegen den vom Kantönligeist gewobenen Föderalismus-Flickenteppich ausgesprochen hat.

Schwer abzuschätzen ist, wie gross nun die politische Dividende für das linke Lager ausfällt.

Laut Isabelle Stadelmann, Professorin für Vergleichende Politik an der Universität Bern, spielen für die Bevölkerung parteipolitische Erwägungen keine grosse Rolle, solange die akute Phase einer Krise anhält. Der Geograf und Politikwissenschaftler Michael Hermann sagt: «Die Endabrechnung wird erst am Schluss gemacht. Bis dahin geht vieles wieder vergessen.»

Er weist ausserdem darauf hin, dass auch die Linke bisher keine Leuchtfigur hervorgebracht hat, die unumstritten Entschlossenheit und Umsicht verkörpern würde.

Und doch ist zu erwarten, dass die Linke mittel- und längerfristig von der Corona-Krise profitieren wird. Dies, weil sich die Gewichte in der bedeutendsten ideologischen Auseinandersetzung zwischen links und rechts gerade zugunsten der Linken verschieben: die Frage, welche Rolle der Staat spielen soll und bis zu welchem Punkt er berechtigt ist, kollektive Interessen gegenüber individuellen durchzusetzen.

Die Bevölkerung beurteilt den Staat deutlich positiver als zuvor.

Die Erkenntnis, wie wichtig im Krisenfall ein funktionierendes Gesundheitssystem, soziale Auffangnetze und staatliche Hilfen für Unternehmen sind, wird nachwirken, auch wenn der aktuelle Notfall überwunden ist – allein deshalb, weil niemand vorhersagen kann, wann der nächste eintritt.

In der repräsentativen SRG-Umfrage Corona-Monitor beurteilt die Bevölkerung den Staat deutlich positiver als zuvor. Das gilt nicht nur für das links-grüne Spektrum, sondern auch für die Basis von FDP, CVP und Grünliberalen. «Einzig bei der Basis der SVP hat sich die Staatsskepsis durch die Pandemie verstärkt», schreibt Studienautor Hermann.

Die Selbstverantwortung ist ein Mythos

Ein weiterer Grund für die Stärkung der Linken ist, dass sich der liberal-konservative, das Schweizer Selbstverständnis prägende Mythos namens Eigenverantwortung als brüchig erwiesen hat. In öffentlichen Verkehrsmitteln trug so lange kaum jemand eine Maske, bis es die Obrigkeit gesetzlich verordnete. Entgegen den ständigen Beschwörungen konservativer Politiker sind offensichtlich allzu viele Menschen nicht über längere Zeit bereit, ihre individuellen Bedürfnisse in nennenswertem Ausmass zugunsten der Allgemeinheit hintanzustellen.

Eigenverantwortung ist eher ein Sujet für Sonntagspredigten und 1.-August-Reden als Realität. Mit dem fortschreitenden Klimawandel wird sich im Übrigen in den nächsten Jahren eine Auseinandersetzung verschärfen, die in diesem Punkt jener um die richtige Corona-Politik stark ähnelt.

Schlägt das Pendel zwischen Staat und Privatwirtschaft, zwischen Individualismus und Kollektiv stark in die eine Richtung aus, gehört es zur Demokratie, dass die Gegenseite als Korrektiv wirkt. Damit die Bürgerlichen dieser Aufgabe in Zukunft gewachsen sind, wäre es im Sinn eines Weihnachtswunsches nicht schlecht, sie würden das viel beschworene Leistungsprinzip mal auf sich selber und auf ihre Rolle in der Corona-Krise anwenden.