Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Die Angst vor dem dritten Kind

Ein Vater hat nicht ängstlich zu sein. Diese Rolle wird gemeinhin nur der Mutter zugeschrieben.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich bisher in meinem Leben zu treffen hatte, war die für oder gegen ein drittes Kind. Die für das vierte hingegen war sehr einfach. Wenn mich Freunde und Bekannte danach fragen, erzähle ich immer die gleiche Geschichte: Meine Lebenskomplizin und ich waren uns schon sehr früh einig darüber, dass es entweder zwei oder vier Kinder sein sollen – aber nicht mehr, weil wir beide das sichere Gefühl hatten, die Situation dann nicht mehr stemmen zu können.

Wir planen sehr gerne. Die Dinge müssen und werden sich nicht zwingend in die Richtung entwickeln, die wir mal gemeinsam angedacht haben. Aber zumindest ein paar Pläne und Ideen für die Zukunft zu entwerfen, gibt uns das Gefühl, nicht immer nur passiv vom Schicksal herumgeschubst zu werden. Und wir machen gerne Pro- und Contra-Listen, mit denen wir visualisieren können, wozu wir uns eigentlich schon entschieden haben, ohne es wirklich zu bemerken.

Fakten vs. Bauchgefühl

Beim dritten Kind haben all diese Strategien versagt. Da war die Lust auf ein weiteres Kind und auf eine grössere Familie. Aber auch das Wissen, so ziemlich alles noch einmal über den Haufen zu werfen, und das Gefühl, zu viert schon vollständig zu sein. Egal wie oft wir hin und her überlegten: Es war immer ein Nullsummenspiel. Das wir schlussendlich entschieden haben. Nicht aufgrund von Fakten, Listen oder Bedürfnissen, sondern einfach so aus dem Bauch und vor allem aus dem Herz heraus. Bei meiner Jüngsten war dann alles wieder sehr selbsterklärend. So geht die Geschichte, die ich erzähle, und sie ist wahr.

Die Geschichte, die ich so gut wie nie erzähle, ist allerdings auch wahr. Ich erzähle sie nicht oft, weil sie mit meiner Angst zu tun hat. Mit der Angst eines Mitdreissigers, der in seinen Zwanzigern naiv und überheblich genug war, um zu glauben, dass er die Kinder schon irgendwie geschaukelt bekommt, und der inzwischen so viel mehr zu verlieren hat. Mit der Angst, die Bedürfnisse dieses Kindes könnten womöglich so gross sein, dass die der anderen Kinder und die eigenen dahinter weit zurückstecken müssten. Mit der Angst, die eigene Kraft würde nicht mehr ausreichen, und die Nerven wären mittlerweile so strapaziert, dass man sich dem Kind gegenüber zu häufig und zu deutlich unfair und abweisend verhält.

Geht das bloss mir so?

Ich habe schon verschiedentlich erwähnt, dass ich ein Schisser bin. Ein Sorgenvater, der lieber wegschaut und laut pfeift, während die Mutter des Zehnjährigen ihm zuruft, er könne ruhig noch viel höher auf den Baum hinauf klettern. Die Angst um meine Kinder ist mir sehr vertraut. Ich halte sie für naheliegend. Umso irritierter und befremdeter bin ich davon, dass es als Vater nur mir so zu gehen scheint. Zumindest wird mir das in Gesprächen und Texten immer wieder gespiegelt: Männer haben vielleicht Angst vor dem Vaterwerden oder auch vor der Realität Kind. Aber als Vater hat man kaum oder gar keine Angst um das Kind. Das ist dann eher Frauensache.

Auf mich trifft zu, was der Autor John Irving einmal über sich geschrieben hat: «Ich bin nur ein Vater mit einer guten Vorstellungsgabe. In meiner Vorstellung verliere ich meine Kinder jeden Tag.» Und bei meinem dritten Kind ist meine Vorstellung einfach Amok gelaufen. Alles, was grundsätzlich und immer auf dem Spiel steht, stand plötzlich mit diesem Kind auf dem Spiel. Alles, was jederzeit all meinen Lieben und mir passieren kann, drohte diesem Kind zu passieren.

Neue Sichtweise

Nur sehr widerwillig liess sich diese Panik von mir in den Griff bekommen. Sie zwang mich, mich in einer Art und Weise mit mir und meiner Angst zu beschäftigen, die mir zutiefst unangenehm und irgendwie auch peinlich war. Genau deshalb erzähle ich Ihnen diese Geschichte.

Denn ich bin immer noch ein Schisser, aber ein geläuterter. Einer, der klarer sieht, woher seine existenziellen Ängste kommen und woran sie gebunden sind. Diese neue Sichtweise verdanke ich meinem jüngsten Sohn, meinem dritten Kind. Nicht nur dafür werde ich ihm für immer dankbar sein.

Dieser Artikel wurde erstmals am 22. November 2017 publiziert und am 25. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.