Verlassene Cité BlancheDie 94-Jährige, die in einer Geisterstadt lebt
Die Arbeitersiedlung des französischen Zementkonzerns Lafarge, der heute Holcim gehört, ist längst verlassen. Bis auf Fernande Brunel – die bleiben will, bis sie stirbt.
«Früher war alles voller Leben hier», sagt Fernande Brunel. «Heute ist alles tot.» Das heisst, sie ist ja noch da. Aber sonst niemand mehr.
Sie hat die Fensterläden dicht gemacht, die südfranzösische Hitze soll, so gut es geht, draussen bleiben. «Ich ertrage das nicht mehr», sagt sie. Die Knie schmerzen auch. Madame Brunel setzt sich an den Küchentisch, der mit Wachstuch überspannt ist. In der Ecke steht ein Ölofen, an der Wand hängt Blümchentapete. In Brunels Wohnung, der mit der Nummer 109, scheint die Zeit stehen geblieben. Die alte Frau nestelt an ihrer Arbeitsschürze herum. «Wenn ich hier weggehe», sagt sie, «dann so richtig.»
Fernande Brunel, 94 Jahre, ist die Letzte ihrer Art. Die letzte Bewohnerin der Cité Blanche, einer Arbeitersiedlung im Rhonetal – genau dort, wo die französische Industrieikone Lafarge im 19. Jahrhundert ihre Wiege hatte. 1946, vor einem Dreivierteljahrhundert, zog Brunel in die Werkssiedlung des Zementherstellers.
2021, da die Welt gerade die Schwelle von der Dienstleistungs- zur Digitalgesellschaft nimmt, wirken die Cité Blanche und ihre letzte Bewohnerin wie Relikte einer längst vergangenen Epoche, des Industriezeitalters. Sie sind zwar noch da – aber schon mehr Geschichte als Gegenwart. Wenn Brunel hier weggeht, wie sie es ausdrückt, dann stirbt auch die Idee, wie die Arbeit und wie das ganze Leben einmal gedacht wurden. Als Symbiose.
Nach Fernande Brunel werden nur die Wände bleiben. Und selbst die nicht. Sie verkommen. Langsam, aber unaufhaltsam. Aus den Fassaden der Cité Blanche spriessen Kräuter, bei manchen Häusern ist das Dach schon eingestürzt. Wo früher die Bäckerei und der Dorfladen waren, sind nur noch Ruinen. Feigenbäume wuchern, der Geruch von reifen Brombeeren liegt in der Luft.
Verfall und Vergessen ausgeliefert
Das Cercle Saint-Léon, das Café, in dem man sich einst nach der Arbeit zum Billard und zum Kartenspielen traf, ist zugemauert – Einsturzgefahr. Vor dem Café hat eine Platane das alte Bushaltestellenschild so umwachsen, dass es bald im Baum verschwindet. Am Ende des Strassenzugs steht stumm ein grosses Kreuz.
Nichts stört die Sommermelancholie. Nur das Zirpen der Grillen ist zu hören und das gleichtönige Surren des Zementwerks, das dem Wandel der Zeit besser standgehalten hat. Für die Cité Blanche ist dagegen keine Rettung in Sicht. Sie ist Verfall und Vergessen ausgeliefert. Niemand hat Geld für die Restaurierung übrig. Nicht die kleine Stadt Viviers, auf deren Gebiet die Siedlung steht, und auch nicht der Milliardenkonzern aus Rapperswil-Jona SG, dem sie mittlerweile gehört.
Die Geschichte der Cité Blanche ist auch eine Geschichte vom Leben und Sterben eines Unternehmens. Denn Lafarge, vor 20 Jahren noch Weltmarktführer im Zementgeschäft, existiert gar nicht mehr. 2015 ist der Konzern im Schweizer Konkurrenten Holcim aufgegangen. Zunächst hiess das fusionierte Unternehmen LafargeHolcim; vor ein paar Wochen haben die Konzernchefs den französischen Firmenteil endgültig aus dem Namen getilgt.
Es bedurfte keiner Katastrophe wie in Pompei oder wie in Fukushima, um Fernande Brunels Welt untergehen zu lassen. Nicht einmal eines radikalen Systembruchs wie in den Industriestädten Ostdeutschlands. Es ist, im Gegenteil, das Kontinuum des Kapitalismus, das die Cité Blanche zur Kulisse für einen postapokalyptischen Film erstarren liess.
Wobei – eine kleine Katastrophe, die alles verschlimmert hat, gab es. Am 11. November 2019 erschütterte ein Erdbeben die Gegend um Viviers. «Das hat ganz schön gewackelt», sagt Fernande Brunel. Sieben Sekunden lang rumorte es, das Beben erreichte eine Stärke von 5,4 auf der Richterskala. Im Nachbarort Le Teil wurden 200 Häuser unbewohnbar. In den ohnehin lädierten Gebäuden der Cité Blanche bildeten sich fingerbreite Risse, vor allem die Kirche hat es schwer getroffen.
Seitdem ist die Lafarge-Siedlung offiziell für Besucher gesperrt und darf auch nicht mehr bewohnt werden. Doch Madame Brunel weigert sich auszuziehen. «Ich sterbe, sobald ihr mich aus der Wohnung tragt», habe sie den eilfertigen Feuerwehrmännern gedroht, die sie nach dem Beben in Sicherheit bringen wollten, erzählt sie. Also darf sie bleiben. Die Bürgermeisterin von Viviers drückt beide Augen zu. Holcim verlangt keine Miete mehr.
«Die Leute hatten es gut. Für den Beginn des 20. Jahrhunderts galt das erst recht.»
Fernande Brunel will nicht gerettet werden und schon gar nicht ins Pflegeheim. Ihre Wohnung verlässt sie nicht mehr. Nur bis zu den Geranien, die sie auf den Treppenabsatz ihres Hochparterres gestellt hat, schafft sie es noch. Es ist auch niemand da, mit dem sie sich zum Plausch treffen könnte. Die letzten Bewohner vor ihr haben die Siedlung vor 15 Jahren verlassen. Ab und zu kommt ihre Tochter vorbei und bringt die Einkäufe. Ansonsten ist Langeweile.
In der Corona-Welt von 2021 erzeugen Heimbüro und Fernunterricht Einsamkeit. In Fernande Brunels Welt herrscht schon viel länger Einsamkeit – an einem Ort, an dem es ja eigentlich darum ging, beisammen zu sein. «Ich mochte das Leben in der Gemeinschaft», sagt sie. Im Nachhinein verklärt sich vielleicht einiges. Doch ja, es gab Dinge, die sie geärgert haben. Zum Beispiel, erzählt sie, wenn die Leute von der Spätschicht bis nachts um drei vor der Tür Boule spielten, während ihr Mann um 5 Uhr rausmusste.
Hommage an die Frau des Patriarchen
Die Cité Blanche liegt eingezwängt zwischen dem riesigen Kalk-Tagebau einerseits, aus dem das Zementwerk seinen Grundstoff bezieht, und der Rhône andererseits, die sich behäbig dem Mittelmeer entgegenwälzt. Hinter Brunels Küchenfenster führen Gleise entlang, über die alle paar Tage ein Güterzug zur Fabrik rumpelt. Das Werk wurde 1833 gegründet. In den 1860er-Jahren liess der Bau des Suezkanals es stark wachsen, bis es zu seinen besten Zeiten, um die vorletzte Jahrhundertwende, 1500 Mitarbeiter beschäftigte. Heute sind es 150.
In der Cité Blanche wiederum, der letzten erhaltenen von ursprünglich sechs Werkssiedlungen, lebten bis zu 450 Menschen. Der damalige Firmenpatriarch Raphaël de Lafarge hatte sie von 1880 an bauen lassen. Ihr Name verweist nicht auf den allgegenwärtigen Kalk, die Siedlung heisst nicht «weisse Stadt». Er war eine Hommage an Blanche, Raphaël de Lafarges jung verstorbene Frau.
Brunel kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg her, als ihr Mann eine Stelle in der Fabrik erhielt. Er führte erst die Pferde, die die Steinbrocken aus dem Tagebau zogen. Später, als Motoren die Pferde ersetzt hatten, arbeitete er an den Rohröfen im Zementwerk. Auch das Wohnen wurde moderner: 1973, zwei Jahre vor dem Tod des Mannes, zogen die Brunels innerhalb der Siedlung um in Wohnung Nummer 109. Sie bot den Luxus eigener Sanitäranlagen. Die Brunels bekamen zwei Kinder. Andere Familien lebten zu zehnt in den Drei-Zimmer-Wohnungen.
«Die Leute hatten es gut», sagt Yves Esquieu. «Für den Beginn des 20. Jahrhunderts galt das erst recht.» Der 78-Jährige ist emeritierter Professor für mittelalterliche Archäologie. «Als Forschungsobjekt ist die Cité Blanche zu jung für mich», sagt er. Aber es geht ihm hier nicht um Forschung, sondern um eine Herzensangelegenheit: Mit seinem Kulturverein CICP Viviers hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Siedlung zu retten, damit sie eben kein Fall für Archäologen wird.
Die Kosten einer Restaurierung schätzt Esquieu grob auf 50 Millionen Euro. Woher das Geld kommen soll, weiss er aber auch nach den vielen Jahren nicht, in denen er bei Lokalpolitikern gebettelt und in ganz Frankreich nach Mäzenen gesucht hat. Die Werkssiedlung geniesst nur eine verminderte Form von Denkmalschutz. «Unser mächtigster Gegner ist die Gleichgültigkeit», sagt Esquieu. «Es ist zum Verzweifeln, hier geht europäische Sozialgeschichte verloren. Wenige Orte stehen so sehr für die Verbindung von industrieller Arbeitswelt und katholischem Paternalismus.»
Die Religion durchdrang alles. Sowohl das Werk als auch die Siedlung liess die Eigentümerfamilie de Lafarge dem Herz Jesu weihen. «Der Pfarrer war der eigentliche Personalchef», erzählt Esquieu. «Wer einen Job in der Fabrik wollte, brauchte seine Empfehlung.» Fernande Brunel erinnert sich, wie der Priester sonntags die Männer aus dem Café holte, um sie in die Messe zu zerren. Schwänzte jemand, konnte es sein, dass er montags nicht ins Werk gelassen wurde. «Das Leben in der Siedlung bedeutete auch Enge, keine Frage», sagt Esquieu. Als nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal ein protestantischer Ingenieur eingestellt werden sollte, sorgte das für Streit an der Firmenspitze.
Trotz der Zwänge war die Arbeit bei Lafarge begehrt. Sie brachte Vorteile in Form sozialer Fürsorge – «Incentives» würde man heute sagen. Früh gab es eine Sparkasse für die Beschäftigten, von 1899 an auch eine eigene Rentenversicherung. Jede Familie bekam einen Garten zugeteilt, in dem Hühner und Hasen gezüchtet wurden. Im Herbst stellten die de Lafarges ihren Mitarbeitern Keltern zur Verfügung, um Wein zu pressen. «Die Arbeitszeit lag unter den landesweiten Forderungen der Gewerkschaften», sagt Esquieu.
Er fährt fort: «Es gab in der Cité Blanche eine Schule für Knaben und eine für Mädchen, einen Fussballverein und eine Musikkappelle – und sogar ein Theater.» Ab den Dreissigern hatten die Lafarge-Siedlungen ein kleines Spital. Fernande Brunels Sohn ist dort geboren.
«Die de Lafarges machten das alles natürlich nicht nur aus Grossherzigkeit», sagt Esquieu. «Es ging darum, die Arbeiter vor Ort zu binden und ihren Einsatz zu optimieren.» Das Spital wurde vor allem gebraucht, weil die Arbeit im Zementwerk hart und gefährlich war. Es gab viele Unfälle – Brüche, Quetschungen, auch tödliche Stürze im Steinbruch. In der Siedlung war das Leben nicht viel gesünder: Die Luft war voll Kalkstaub, der ungefiltert aus der Fabrik herüberwehte.
Der Niedergang der Cité Blanche begann in den frühen 1970er-Jahren. «Die Leute zogen fort, weil sie sich nun oft ein eigenes Häuschen leisten konnten», sagt Esquieu. Andere gingen, weil das Werk weniger Mitarbeiter brauchte. Zugleich waren sie nicht mehr auf die Fürsorge von Lafarge angewiesen: Frankreich hatte einen grosszügigen Sozialstaat entwickelt.
Die de Lafarges wohnen nebenan
Fernande Brunel mochte die de Lafarges. Sie gaben sich nahbar. Sonntags sah man sie bei der Messe. Ihre Kinder gingen mit denen der Arbeiter zur Schule.
Raphaël und Pierre de Lafarge gehörten zu diesen Schülern. Die Ururenkel des Siedlungsbauers, noch ein Raphaël, sind jetzt rüstige Herren von 79 und 74 Jahren. Sie empfangen im holzgetäfelten Salon des Château de Lafarge, ein paar Hundert Meter von der Cité Blanche entfernt. Raphaël de Lafarges Gattin serviert den Herrschaften ein kühles Bier.
Wie die Siedlung zu retten wäre: «Ich habe keine Ahnung», sagt Pierre de Lafarge. «Wir haben doch schon lang nicht mehr die Macht im Konzern.» 2012 schied er als letzter Familienvertreter aus dem Verwaltungsrat aus. Seit der Übernahme durch Holcim vor sechs Jahren habe er «keinerlei Kontakt mehr» zum Unternehmen, sagt der 74-Jährige.
Man hat sie aber nicht gefragt, weil die de Lafarges in Wahrheit schon seit der Nachkriegszeit nicht mehr viel zu sagen hatten. Damals war ihre Firma unter Zwangsverwaltung gestellt und der Sitz von Viviers nach Paris verlegt worden, nachdem Lafarge mit Nazi-Deutschland kollaboriert hatte.
Überhaupt tat sich das Unternehmen immer wieder als Schurkenfirma hervor: Nicht nur wegen der branchenüblichen Kartellvergehen oder weil das Zementgewerbe als besonders umweltschädlich gilt. Zurzeit ermittelt die Pariser Justiz sogar wegen des Verdachts der «Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit», weil Lafarge 2013 und 2014 islamistischen Terroristen in Syrien Millionen gezahlt haben soll, um dort ungeachtet des Bürgerkriegs ein Werk betreiben zu können.
Die Schuld an diesem Skandal geben die Brüder de Lafarge denselben familienfremden Managern, die erst die Cité Blanche verkommen liessen und den Konzern später mit Holcim fusionierten. «Das Unternehmen war nicht gut geführt», sagt Raphaël de Lafarge. «Sowas rächt sich.» Sein Bruder Pierre fragt: «Warum sollte Holcim jetzt die Siedlung retten? Dies hier ist nicht der Stammsitz von Holcim.»
Holcim will nicht zahlen
Der ist in der Schweiz, am Zürichsee. Dort jedoch will man sich keinesfalls nachsagen lassen, man vernachlässige das Lafarge-Erbe. «Die Cité Blanche ist ein wichtiger Teil der Unternehmensgeschichte», versichert ein Holcim-Sprecher. «Das Ziel des Konzerns ist, Partnerschaften zu entwickeln, um die notwendigen Ressourcen für die Renovierung des Standorts einzusammeln», heisst es. Dass das Unternehmen, das für das erste Halbjahr 2021 «Rekordergebnisse» in Milliardenhöhe vermeldet, die Arbeitersiedlung in Eigenregie renoviert, kommt bei aller Wertschätzung aber offensichtlich nicht infrage.
Konkret geplant ist bisher nur die Sicherung der erdbebengeschädigten Kirche. Kostenpunkt: 200’000 Euro, die sich Holcim und öffentliche Träger teilen. Holcim beteuert, der Konzern suche Ideen für die künftige Nutzung der Cité Blanche. Es hat keinen Zweck, sie herzurichten, wenn sie dann leer steht.
Zu den Ideen, die Holcim prüft, gehört der Betrieb einer Taschen-Manufaktur in der früheren Näherei, wo einst die Zementsäcke gefertigt wurden. Ein anderer Vorschlag ist, die Cité Blanche zum internationalen Klavier-Zentrum zu machen. «Das ist alles sehr vage», sagt Yves Esquieu, der Mann vom Kulturverein. Allmählich verlässt ihn der Mut.
Und was ist mit den de Lafarges? Warum machen sie kein Geld locker?
Raphaël de Lafarge, der ältere Bruder, muss bei dieser Frage kurz auflachen. «Das können wir nie bezahlen», sagt er. Wohl habe er einen klangvollen Namen geerbt – aber kein so grosses Vermögen, das die Rettung der Cité Blanche erlauben würde. Er habe schon Mühe, sein Château in Schuss zu halten. Er nippt an seinem Bier – und sagt dann etwas Überraschendes: «Ich würde die Cité Blanche ja einfach abreissen. Ihre Zeit ist zu Ende.»
Drüben in der Siedlung sitzt Fernande Brunel in ihrer Wohnung mit der Nummer 109. Die letzte Bewohnerin, die letzte Verteidigerin der Cité Blanche. Die letzte Vertreterin einer Epoche.
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