Analyse zur KriseDeutschland ist in masslosem Missmut gefangen
Extremistische und populistische Parteien behaupten, das Land stehe am Abgrund – und gewinnen damit Wahlen. Dabei ist die Lage erheblich besser als die Stimmung.
- Wagenknecht und Höcke behaupten, unfähige Eliten schwächten Deutschland.
- Viele Deutsche schauen mit Sorge in die Zukunft, trotz Zufriedenheit mit ihrer Lage.
- Das Vertrauen in die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP geht verloren.
- Deutschland sei nicht gespalten, sagt Kanzler Scholz – und betont gemeinsame Werte.
In ihrer Sicht sind sich die Links-rechts-Populistin Sahra Wagenknecht und der Rechtsextremist Björn Höcke von der AfD verblüffend einig: Deutschland oder gleich das ganze Abendland gehe unter, stehe man nicht auf, behaupten sie. Schuld daran seien unfähige Eliten, der gierige US-Kapitalismus, rücksichtslose Einwanderer. Deutschland finde nur mit einer Rolle rückwärts wieder zu sich selbst, zurück in eine Zeit ohne Krieg, Migration, Globalisierung oder Europäisierung.
In den jüngsten Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg teilten diese nationalistisch-apokalyptische Sicht fast die Hälfte aller, die wählen gingen. Für ganz Deutschland ist das zwar nicht repräsentativ, weil die AfD und die Wagenknecht-Partei auf dem Gebiet der früheren DDR etwa doppelt so stark sind wie im viel bevölkerungsreicheren Westen.
Doch das Märchen, Deutschland gehe unter, strahlt längst auf die rechte Mitte aus. Das zeigt die verschärfte Rhetorik der Christdemokraten, der grössten Opposition. Friedrich Merz, der die Union in die nächste Bundestagswahl führen wird, warb diese Woche mit einer ganzseitigen Anzeige in grossen Zeitungen für sich als Kanzlerkandidat. Sein Aufruf war von einer Leitmelodie getragen, die wir von Donald Trump kennen: Wählt mich, damit Deutschland wieder gross wird! Damit wir wieder stolz auf unser Land sein können!
Mehr Sorge um die Zukunft gab es zuletzt 1950
Eingebildet, so viel steht fest, sind weder Krise noch Krisengefühle. Nach Corona, Krieg und Inflation schauen die Deutschen so sorgenvoll in die Zukunft wie zuletzt 1950, sagt das Allensbach-Institut für Demoskopie. Die Frage, ob wir in schwierigen oder in glücklichen Zeiten leben, wird so negativ beantwortet wie nie seit Beginn der Fragereihe 1964. Drei von vier Deutschen finden, unsere Zeit sei besonders unsicher, und denken dabei an Krieg, Kriminalität und Terrorismus.
Verblüffend ist ein weiteres Ergebnis: Fragt man die Deutschen, wie es ihnen geht, sagen die meisten, dass es ihnen heute gut gehe. Aber sehr viele fürchten, die Zukunft werde schlechter sein als Gegenwart und Vergangenheit – für sie selbst wie für ihre Kinder. Dass der Horizont so düster erscheint, bedrückt viele. Verlust- und Abstiegsängste verfinstern auch den Blick auf die Politik.
Auch dort finden die Deutschen konkrete Gründe für Missmut. Seit mindestens einem Jahr wird das Land von einer Regierung geführt, die als Fortschrittskoalition startete, nun aber in Streit und Stillstand versunken ist. Sozialdemokraten, Grüne und FDP sehen zwar die Probleme, finden aber keinen Weg mehr, ihnen kraftvoll zu begegnen. Die Deutschen haben das Vertrauen in Kanzler Olaf Scholz und dessen Koalition verloren, das zeigen Umfragen. Weniger bekannt – aber vielleicht noch beunruhigender – ist die Erkenntnis, dass nur wenige Menschen glauben, die Christdemokraten würden es besser machen.
Die Krise von VW, Bosch oder BASF demütigt die Deutschen
Demoralisierend wirkt auch der Zustand der deutschen Wirtschaft. Während die anderen grossen Industrieländer nach der Pandemie wieder wachsen, schrumpfte die deutsche Wirtschaftskraft 2023 und dürfte auch in diesem Jahr leicht zurückgehen.
Grund dafür, dass laut Ökonomen auch die Aussichten besorgniserregend sind, ist nicht mehr die Inflation. Vielmehr stösst das deutsche Geschäftsmodell, hochwertige Industriegüter in alle Welt zu exportieren, an eine Grenze. Deglobalisierung, neuer Protektionismus, auf Dauer höhere Energiepreise und ein immer heikleres China-Geschäft treffen den «Exportweltmeister» besonders hart. Dabei ist die Stärke von Mercedes, Siemens oder BASF für deutsches Selbstbewusstsein besonders wichtig.
Schliesslich schürt die starke Einwanderung – nur 1993, 2015 und 2016 suchten zuletzt mehr Menschen in Deutschland Asyl als 2023 – Angst vor Kontrollverlust, Überforderung, zunehmender Gewalt und «Überfremdung».
Das Panorama ist also tatsächlich dunkel, die Herausforderungen sind gross. Aber rechtfertigt das, dass Medien, Politikerinnen und Bürger bei jedem Missstand gleich «Staatsversagen» beklagen? Wer wie Wagenknecht oder Höcke Deutschland für einen «gescheiterten Staat» hält, war noch nie in Somalia oder Haiti. Deutschland ist immer noch ein wirtschaftlich starkes, modernes, wohlhabendes, politisch robustes Land, das beste Chancen hat, seine Krisen zu überwinden und sich an die neue Weltlage anzupassen.
Überbordendes Schlechtreden schadet dem Land
Dafür bräuchte das Land aber dringend mehr Zuversicht. Deutsche neigen zu masslosem Schlechtreden in der Krise und zu Überheblichkeit im Erfolg. Nützlicher wäre Realismus, gepaart mit Entschlusskraft und Mut. Deutschland ist in der Krise, ja, dennoch ist die Lage erheblich besser als die Stimmung. Oder umgekehrt: Der überbordende Missmut ist mittlerweile womöglich ein ernsteres Problem als die anstehenden politischen und wirtschaftlichen Aufgaben. Im Moment sei es vor allem die negative Stimmung, die Konsum und Investitionen – und damit die Konjunktur – lähme, schrieb gerade die OECD.
Auch das Gerede, Deutschland sei politisch so gespalten wie nie, schadet dem Land. Ein Vergleich mit den USA zeigt: Wenn es eine Spaltung zwischen breiter Mitte und Rand gibt, dann liegt diese in Deutschland nicht bei 50:50, sondern eher bei zwei Dritteln zu einem Drittel. Das betrifft auch die politischen Haltungen zu sehr umstrittenen Themen wie der Corona- oder der Ukraine-Politik.
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Der viel gescholtene Olaf Scholz hat diese Woche in einer bemerkenswerten kleinen Rede dem Gefühl widersprochen, das Land sei hoffnungslos zerrissen. Das Zerrbild entstehe, weil extreme Meinungen immer mehr Aufmerksamkeit erhielten. «Die meisten von uns stehen in den grossen Fragen näher beieinander, als es scheint. Uns eint viel mehr, als uns trennt. (…) Es sind nicht die Lauten, die zählen. Sondern wir, die Vielen.» Wahrgenommen wurde der Einwurf des Kanzlers so gut wie nicht.
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