Regierungskrise in DeutschlandJustizminister tritt ab und kritisiert Scholz – Union, FDP und BSW fordern sofortige Vertrauensabstimmung
Von den Regierungsmitgliedern der FDP bleibt nur der Verkehrsminister im Amt und verlässt dafür seine Partei. Nachfolger von Lindner wird ein Scholz-Vertrauter.
- Jörg Kukies wird neuer Finanzminister nach Lindners Entlassung durch Kanzler Scholz.
- Nach dem Koalitionsbruch tritt Volker Wissing aus der FDP aus.
- Justizminister Buschmann erhebt schwere Vorwürfe gegen Kanzler Scholz.
- CDU/CSU-Fraktion fordert Vertrauensfrage und Neuwahlen im nächsten Jahr.
Nach dem Bruch der «Ampel»-Koalition der Sozialdemokraten, FDP und Grünen überschlagen sich am Donnerstagmorgen die Ereignisse. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte in einer Ansprache vor dem Mittag an die Verantwortung aller Beteiligten. Nun sei «nicht die Zeit für Taktik und Scharmützel», sondern für «Vernunft und Verantwortung». Viele Menschen im Land blickten mit Sorge auf die politischen Ereignisse.
Steinmeier nannte den Bruch der Ampel-Koalition eine «politische Krise, die wir hinter uns lassen müssen und werden». Er sagte zugleich: «Das Ende einer Koalition ist nicht das Ende der Welt.» Er betonte, dass er bereit sei, nach der Vertrauensfrage von Kanzler Olaf Scholz (SPD) den Bundestag aufzulösen, um den Weg für Neuwahlen freizumachen.
Scholz-Vertrauter Jörg Kukies wird neuer Finanzminister
Scholz hatte den bisherigen Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner am Mittwochabend nach einem beispiellosen Zerwürfnis entlassen. Scholz warf Lindner mehrfachen Vertrauensbruch und Kleinkariertheit vor. Lindner hatte anschliessend seinerseits Scholz einen «kalkulierten Bruch der Koalition» vorgeworfen.
Nachfolger des entlassenen Finanzministers Lindner wird Jörg Kukies, der bisherige Wirtschaftsberater von Scholz. Der Sozialdemokrat Kukies ist derzeit Staatssekretär im Kanzleramt und gilt als einer der wichtigsten Berater von Scholz. Er ist sein Mann für Wirtschaft und Finanzen und verhandelt für ihn die Abschlussdokumente der G7- und G20-Gipfel.
Verkehrsminister bleibt, verlässt aber die FDP
Von den bisherigen vier Regierungsmitgliedern der FDP will nur Verkehrsminister Volker Wissing im Amt bleiben und tritt dafür aus der Partei aus. Er wolle nicht in eine andere Partei eintreten, sagte Wissing in Berlin.
Seine Entscheidungen erläuterte Wissing am Donnerstagmorgen. Der Kanzler habe ihn in einem persönlichen Gespräch gefragt, ob ich bereit sei, das Amt unter den neuen Bedingungen fortzuführen. Er habe darüber nachgedacht und dies gegenüber Scholz bejaht. «Ich möchte mit dieser Entscheidung keine Belastung für meine Partei sein. Und habe deshalb heute Herrn Christian Lindner meinen Austritt aus der FDP mitgeteilt. Ich distanziere mich damit nicht von Grundwerten meiner Partei und möchte auch nicht in eine andere Partei eintreten. Ich möchte mir selbst treu bleiben», schreibt Wissing.
Der Verkehrsminister spart in seinem Schreiben nicht mit Kritik: «Wir haben schwierige Zeiten und ich bin der Auffassung, dass die Regierung mehr Chancen gehabt hätte, wenn man von Anfang an gemeinsamer und stärker an ihrem Erfolg gearbeitet hätte. Ich war mit vielen Dingen nicht einverstanden, insbesondere nicht der Art und Weise, wie man kontroverse Positionen lange Zeit öffentlich ausgetragen hat, anstatt Brücken zueinander zu bauen. Weil das Brückenbauen ein Dienst an der Gesellschaft ist.»
Vorwürfe des Justizministers an Scholz
Im Gegensatz zu Wissing hat Justizminister Marco Buschmann offiziell um seine Entlassung gebeten. In einer Erklärung, die der FDP-Politiker am Donnerstag veröffentlichte, schreibt er, dass Lindner Vorschläge gemacht habe, um Deutschland aus einer schwierigen wirtschaftlichen Lage zu führen. Der Kanzler habe stattdessen ein Papier mit Massnahmen vorgelegt, die kaum geeignet erscheinen, eine substanzielle Wirtschaftswende zum Besseren herbeizuführen».
Lindner habe daraufhin vorgeschlagen, SPD, Grüne und FDP sollten gemeinsam den Weg zu einer vorgezogenen Bundestagswahl freimachen. Schliesslich habe der Kanzler erklärt, nicht mehr mit Lindner zusammenarbeiten zu wollen, und dadurch die Koalition aufgekündigt. «Warum er den geordneten Weg zu Neuwahlen ausgeschlagen hat, um sodann selbst die Koalition aufzukündigen und in völlig unklaren Verhältnissen Neuwahlen anzustreben, erschliesst sich mir nicht», erklärte Buschmann. «Die Aufgabe als Bundesminister der Justiz hat mir viel Freude bereitet», schrieb der FDP-Politiker.
Sein Nicht-Rücktritt erzürnt derweil die Union aus CDU und CSU. Es sei eine bodenlose Frechheit, dass Wissing im Amt bleiben wolle, sagte Fraktionsvize Ulrich Lange in der «Rheinischen Post». Die Union fordere seinen sofortigen Rückzug. «Mal abgesehen von seinem Versagen als Verkehrsminister ist es auch ein charakterloser Loyalitätsbruch gegenüber seiner ihn tragenden FDP», kritisierte Lange.
Auch die FDP-Bildungsministerin geht
Auch Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger gibt ihr Amt auf. Stark-Watzinger habe am Donnerstagmorgen formal um ihre Entlassung gebeten, teilte eine Ministeriumssprecherin mit. Demnach hatte die FDP-Politikerin dies bereits am Mittwochabend gegenüber Scholz angekündigt.
In einer Stellungnahme erklärte Stark-Watzinger, eine «Regierungsbeteiligung der Freien Demokraten ist niemals Selbstzweck. Unser Anspruch, nicht erpressbar zu sein und die Gewissheit, aus Überzeugung für unser Land zu handeln, waren an politischen Wendepunkten immer ein erfolgreicher Kompass für uns.»
Merz fordert von Scholz Vertrauensfrage nächste Woche
Die Unionsfraktion (CDU/CSU) hat Scholz aufgefordert, sofort die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. Die Ampel-Koalition sei «gescheitert», sagte Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) am Donnerstag nach einer Fraktionssitzung in Berlin. Die Unionsfraktion habe die Forderung einstimmig beschlossen, wonach die Vertrauensabstimmung spätestens kommende Woche erfolgen solle.
Diese Forderung will Merz nach eigenen Angaben dem Kanzler am Donnerstagmittag in einem persönlichen Gespräch vortragen, danach werde er auch mit dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier über die aktuelle Lage sprechen.
Deutschland könne es sich nicht leisten, über mehrere Monate eine Regierung zu haben, die keine Mehrheit mehr im Bundestag hat, sagte Merz. Als Neuwahltermin brachte Merz, der bereits zum Kanzlerkandidaten der Union ausgerufen worden ist, die zweite Januarhälfte ins Gespräch.
Scholz hatte am Vorabend nach dem Koalitionsbruch angekündigt, Mitte Januar die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen und damit den Weg für Neuwahlen Ende März freizumachen. Zugleich kündigte Scholz Gespräche mit Merz über die Übergangszeit bis zur Neuwahl des Bundestags an.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte nach der Sondersitzung der Unionsfraktion: «Eine Restampel kann nicht den Anspruch haben weiterzuregieren.» Ein Verbleib von Scholz im Amt des Kanzlers bis März wäre «arrogant und respektlos gegenüber den Wählerinnen und Wählern». Scholz habe nicht mehr das Vertrauen einer Mehrheit im Bundestag.
Weitere Forderungen nach schnellen Neuwahlen
Auch BSW-Chefin Sahra Wagenknecht hat Scholz aufgefordert, spätestens in der kommenden Woche die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. «Das Personalchaos in der Ampel zeigt, dass Neuwahlen keinen Aufschub dulden», sagte sie am Donnerstag. Wagenknecht fügte hinzu: «Der Kanzler hat längst jede Kontrolle verloren. Keinem Bürger ist dieses Chaos noch vermittelbar.»
Die BSW-Chefin kritisierte auch, dass Kanzlerberater Jörg Kukies nun das Amt des Finanzminister übernehmen soll. «Die Sozialdemokraten betrauen ausgerechnet einen ehemaligen Goldman-Sachs-Banker mit der Aufstellung des Bundeshaushalts.» Auch das sage viel über den Zustand der SPD.
DPA/AFP/step/anf
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