Nachruf auf Kemal KurspahicDer Verteidiger Sarajevos
Der grosse bosnische Journalist Kemal Kurspahic ist tot. Er war ein liberaler Geist, der unbeirrt gegen Nationalismus anschrieb und sich für das Zusammenleben der Balkanvölker einsetzte.
Bevor die Schüsse auf dem Balkan fielen, tobte der Krieg der Worte. Das staatliche Fernsehen und die Zeitungen stellten sich in den Dienst der nationalistischen Propaganda, sie erweckten tief sitzende Feindbilder zu neuem Leben, es wurde gelogen, gehetzt und manipuliert. Danach übernahmen kaltblütige Hardliner die Macht. Sie wurden von den Medien «geschaffen». Davon war Kemal Kurspahic überzeugt. In seinem viel gerühmten Buch «Prime Time Crime. Balkan Media in War and Peace», das 2003 in den USA erschien, untersuchte der bosnische Journalist minutiös die Rolle der Medien vor dem blutigen Zerfall Jugoslawiens sowie während und nach dem Krieg.
Journalisten im Schützengraben
Als 1992 die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo durch serbische Nationalisten begann, sassen auch die Journalisten im Schützengraben. In einem Beitrag des bosnisch-serbischen Fernsehens hiess es allen Ernstes: «Die muslimische Führung hält Sarajevo unter Belagerung von innen. Die Serben setzen die Verteidigung ihrer jahrhundertealten Hügel um Sarajevo herum fort.» In Serbien wurde damals die Meldung verbreitet, muslimische Extremisten hätten serbische Kinder den Löwen im Zoo von Sarajevo zum Frass vorgeworfen. Solche Legenden sollten von den wahren Grausamkeiten ablenken: Der Belagerung Sarajevos, die 1425 Tage dauerte, fielen über 11'000 Menschen zum Opfer.
Faktenverdreher gab es auch auf der kroatischen Seite. In seinem Buch zitiert Kurspahic eine Zagreber Fernsehjournalistin mit den Worten: «Ich bin bereit, für mein Vaterland zu lügen.» Journalisten, die die Sprache des Hasses ablehnten, galten als Landesverräter und verloren ihre Jobs.
Die Macht der Toleranz
Kurspahic gab nicht auf. Er war ein liberaler Geist, der unbeirrt gegen Nationalismus anschrieb und sich für das Zusammenleben der Balkanvölker einsetzte. Weltweit bekannt wurde er als Chefredaktor der bosnischen Tageszeitung «Oslobodjenje», die mit ihrer multiethnischen Redaktion dem nationalistischen Wahn trotzte. «Das Blutbild stimmt noch», sagten die muslimischen, serbischen und kroatischen Journalisten und Journalistinnen damals sarkastisch, als täglich durchschnittlich 329 Granaten in Sarajevo einschlugen. Kurspahic, ein mit einer Serbin verheirateter Muslim, stand für den kosmopolitischen Charakter der bosnischen Hauptstadt.
Während des Krieges wurde die Zeitung «Oslobodjenje» in einem Atomschutzbunker in Sarajevo produziert, und sie erhielt Spenden auch aus dem Ausland, darunter von Tamedia und der Leserschaft des «Tages-Anzeigers». Der damalige Chefredaktor Roger de Weck schrieb in einem Spendenaufruf über «Oslobodjenje»: «Das Blatt verkörpert die Macht der Toleranz; sie lässt sich, anders als viele scheinbar stärkere Mächte, niemals gänzlich brechen. ‹Oslobodjenje› steht für eine Sache, die selbst in Sarajevo, dieser Trümmerstadt Europas, nicht zu zertrümmern war.»
1993 ging der vom Europäischen Parlament vergebene Sacharow-Preis für die geistige Freiheit an die Redaktorinnen und Redaktoren von «Oslobodjenje». Vielen westlichen Journalisten, die über den Bosnien-Krieg berichteten, blieb Kurspahic als geschätzter und kompetenter Gesprächspartner in bester Erinnerung. Westliche Politiker wie der damalige US-Senator Joe Biden liessen sich in Sarajevo von Kurspahic über die Folgen des Krieges unterrichten.
Sorge um die Zukunft Bosniens
Als der Bosnien-Konflikt mit dem Friedensabkommen von Dayton 1995 zu Ende ging, begann Kurspahic eine internationale Karriere. Der Jurist forschte an der Harvard University und lehrte Journalismus an verschiedenen amerikanischen Hochschulen. Zwischen 2001 und 2006 war Kurspahic für das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung tätig – zunächst als Sprecher in Wien, danach als Vertreter in der Karibik mit Sitz auf Barbados. 2007 kehrte er zum Journalismus zurück und arbeitete für ein Redaktionsnetzwerk im US-Bundesstaat Virginia.
Die Sorge um die Zukunft Bosniens liess Kurspahic auch fern der Heimat nicht los. In seinen Kolumnen für Radio Free Europe kritisierte er die Populisten und Nationalisten, die das Balkanland lähmen. Der 74-jährige Kemal Kurspahic starb am vergangenen Freitag an den Folgen eines Schlaganfalls.
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