Zu wenig ukrainische SoldatenKommandanten fürchten Kollaps der Front, während Kiew um ein Gesetz streitet
Etliche Soldaten müssen nach zwei Jahren an der Front dringend abgelöst werden. Doch Ersatz fehlt. Denn das Parlament hadert mit dem neuen Mobilisierungsgesetz.
Es ist das wohl wichtigste ukrainische Gesetz im dritten Jahr des Krieges gegen Russland: Ein Mobilisierungsgesetz, das mehr Männer in die Armee bringen und Hunderttausende erschöpfter, verwundeter – oder toter – Soldaten ersetzen soll. Doch das Gesetz ist noch weit von einer Annahme entfernt, und damit auch Ersatz an der Front – und das, obwohl etwa in der Ostukraine die Stadt Awdijiwka wohl vor dem Fall steht, so der «Kyiv Independent».
Etwa 800’000 Militärs der Ukraine sind derzeit aktiv, schätzt das Londoner Internationale Institut für strategische Studien in einem aktuellen Militärbericht. Gleichwohl dürfte die Ukraine allein 2023 eine sechsstellige Zahl an Soldaten durch Tod oder Verletzung verloren haben, und gleichwohl hakt es in der Ukraine spätestens seit dem Frühsommer 2023 bei Einberufungen massiv. Auch sinkt die Qualität neuer Soldaten.
Ende November schilderten hohe Offiziere grosse Probleme mit Einheiten, die nicht einmal zur Hälfte besetzt seien. Die Lage hat sich noch zugespitzt. In der Ostukraine berichteten ukrainische Soldaten der «Washington Post» nun über Einheiten, die teils nicht einmal ein Fünftel ihrer Sollstärke erreichen. Kommandanten fürchten einen Kollaps der Front.
Selenski gegen Einberufung von bis zu 500’000 Mann
Der ukrainische Generalstab forderte, 2024 bis zu einer halben Million Soldaten einzuberufen – Präsident Selenski lehnt das bis heute ab. Ein im Dezember vorgelegter Entwurf für ein Mobilisierungsgesetz war in so vielen Punkten verfassungs- oder gesetzeswidrig, dass das Parlament ihn nicht behandelte.
Am 30. Januar folgte ein korrigierter Entwurf. Auch dieser war nach Ansicht des Juristischen Dienstes des Parlaments und dem Ombudsmann zufolge verfassungs- oder rechtswidrig. Ombudsmann Dmirto Lubinetz listete die mutmasslichen Verstösse auf neun Seiten auf; am 6. Februar veröffentlichte er seine Bedenken.
Schon ein geplantes Recht für das Militär, Männer am Verlassen des Landes zu hindern, sei verfassungswidrig – das dürften nur Polizei oder Grenzschutz. Eine Pflicht, dass jeder Ukrainer ein elektronisches Verzeichnis mit allen wehrrelevanten Daten eröffnen müsse, verstosse unter anderem gegen die Verfassung und das Datenschutzgesetz. Der Plan, Studenten weiter von Einberufungen freizustellen, nicht aber Doktoranden: verfassungswidrig. Und so weiter.
Wenige Stunden später aber rief Lubinetz die Parlamentarier auf, dem Entwurf gleichwohl zuzustimmen: Verteidigungsminister Rustam Umerow hatte den Ombudsmann ins Gebet genommen und bekniet, seine Bedenken zurückzustellen: Alle Mängel könnten vor einer ohnehin notwendigen zweiten Abstimmung beseitigt werden.
Im federführenden Verteidigungsausschuss des Parlaments wurde der Entwurf schliesslich trotz Protesten der Opposition im beschleunigten Verfahren ohne Diskussion durchgewunken, am 7. Februar vom Parlament mit knapper Mehrheit angenommen. Parlament und Regierung können nun bis zum 21. Februar neue Korrekturen einbringen – erwartet werden Hunderte.
Wirkung wohl erst im Sommer spürbar
Danach wird es wohl noch weitere Wochen dauern, bis diese besprochen sind und der Entwurf zur entscheidenden zweiten Abstimmung gestellt wird. Sollte der korrigierte Entwurf Gesetz werden, tritt dieses nach bisheriger Planung einen Monat später in Kraft. Die Regierung muss dann für etliche Bestimmungen noch weitere Verordnungen umsetzen. Neu mobilisierte Männer müssen eigentlich mehrere Monate auf den Dienst an der Front vorbereitet werden: Es dürfte also Sommer werden, bis ein Mobilisierungsgesetz wirksam an der Front wird.
Ohnehin schrecken die Autoren des Gesetzentwurfs vor manchen radikalen Schritten zurück: So bleiben Studenten vom Wehrdienst ausgeschlossen. Allein 2023 nutzten so rund 110’000 ukrainische Männer die Möglichkeit, sich durch Einschreibung an einer Universität der Einberufung zu entziehen, berichtet der Lwiwer Investigativdienst NGL.
Tausende verliessen über Scheinfirmen das Land
Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine offiziell nicht verlassen, wenn sie nicht etwa Invaliden oder Väter von mindestens drei Kindern sind – dann sind sie vom Wehrdienst befreit. Tausende Männer haben es dennoch NGL zufolge allein aus der Region Lwiw ins Ausland geschafft. Sie wurden von vermeintlichen Stiftungen oder Transportfirmen als angebliche Langstreckenfahrer oder humanitäre Mitarbeiter ausgegeben – gegen Bestechungsgelder von 3000 bis 5000 Dollar.
Auch alleinerziehende Väter müssen nicht an die Front. In einer Einheit in der Südukraine beantragten zwölf Soldaten ihre sofortige Entlassung aus der Armee, weil sie nach einer Scheidung das alleinige Sorgerecht für ihre minderjährigen Kinder bekommen hätten.
Fehler gefunden?Jetzt melden.