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Nachruf auf Italiens WM-Helden
Paolo Rossi – der Tordieb

Paolo Rossi im WM-Halbfinal 1982 nach einem seiner beiden Tore zum 2:0-Sieg gegen Polen.
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«Uno di noi», sagen die Italiener, einer von uns. In jeder Hinsicht. Schon sein Name: Paolo Rossi, ein Allerweltsname. Vielleicht ist es sogar die häufigste Namenkombination im Italienischen überhaupt. Doch dieser Paolo Rossi aus Prato bei Florenz, geboren 1956, trug ein erwachsenes Leben lang die spanische Kinderversion seines Vornamens mit sich herum. Als Alleinstellungsmerkmal. Wie eine fröhliche Reminiszenz an einen der glücklichsten, leichtesten Momente in der italienischen Nachkriegszeit.

«Pablito» Rossi.

Nun ist der Held der Azzurri bei der WM 1982 in Spanien, Mittelstürmer und Torschützenkönig des Turniers mit sechs Treffern, an einem Krebsleiden gestorben, und «La Repubblica» schreibt: «Er hat seinen nicht sehr originellen Namen für immer in die Geschichte des Fussballs gemeisselt.» Wenigstens des italienischen.

Als Verteidiger noch richtig holzten

Rossi war immer mehr National- als Vereinsspieler, ein ewiger Verlobter der Republik. Juventus Turin holte den schmalen Jungen schon früh in die Nachwuchsakademie, glaubte dann aber nicht an sein Potenzial und schob ihn herum, zunächst nach Como, dann nach Vicenza, wo er vom Flügel ins Zentrum der Offensivabteilung wechselte und gross wurde – eine Intuition seines damaligen Trainers. Viel später sollte Rossi einmal erzählen, er habe nie Mittelstürmer werden wollen. Es waren Zeiten, da Verteidiger noch richtig holzten, und Rossi war zwar schnell und technisch begabt, aber eben auch leicht, feingliedrig, ein Punchingball für Haudegen. Wenn er es dennoch zu einem der Grössten in der Rolle brachte, hing das an seinem aussergewöhnlichen Sinn für sehr kurze Zeitfenster und an seinem scharfen Blick für die Lücke in den gegnerischen Abwehrreihen. «Rossi war ein Klandestiner des Strafraums», schreibt Mario Sconcerti. «Er hat gelernt, sich zu verstecken, weil er die Physis nicht hatte, er überraschte immer alle, er stahl ihnen einen Meter, und es war Tor.»

Nach Vicenza wechselte er zu Perugia, von Provinzverein zu Provinzverein, und dort fiel er in ein Loch, das ihn beinahe für immer verschluckt hätte. 1980 tauchte sein Name in den Ermittlungen zum «Totonero» auf, dem grossen Wettskandal im italienischen Fussball: Spieler, Agenten und Vereinsoffizielle aus der Serie A und der Serie B schienen darin auf, sie manipulierten Spiele, um sich zu bereichern. Viel Beweismaterial gegen Rossi gab es zwar nicht, nur ein kurzes Treffen, zwei Minuten, mit einem der Drahtzieher. Die zivile, republikanische Justiz hielt die Indizienlage für zu dünn und sprach ihn frei. Doch die Sportjustiz sperrte Paolo Rossi für zwei volle Jahre. Alles schien vorbei zu sein – seine gute Leistung an der WM 78 in Argentinien? Bedeckt mit Schande.

Rossi sollte immer beteuern, dass er schuldlos war, das Opfer eines Irrtums. Keine Lira soll er verdient haben am «Totonero», sagten auch Mitglieder der Bande, er sei nur einmal mit dem falschen Gesprächspartner gesehen worden. Aber er trug nun ein Stigma. Rossi hätte ja, wenn er sich denn wirklich nichts zuschulden kommen lassen hatte, die Machenschaften wenigstens melden können.

«Ich verdanke ihm alles.»

Paolo Rossi

Nur Enzo Bearzot, der legendäre Commissario tecnico mit der Tabakpfeife, blieb seinem Mittelstürmer treu. Der Trainer traf sich mit Rossi, befragte ihn, als wäre es ein Verhör, liess sich von dessen Unschuld überzeugen und wartete dann das Ende der Sperre ab, um ihn für die WM in Spanien aufzubieten. Direkt aus der Verbannung, noch gar nicht fit. «Ich verdanke ihm alles», sagte Rossi einmal.

Die Kritik an Bearzot war gross. Sie legte sich erst an einem heissen Sommertag in Barcelona, im alten Stadion im Stadtteil Sarrià, Italien gegen Brasilien. Wahrscheinlich war die ganze Welt für die Brasilianer, die so erfrischend und naiv stürmten wie eine verspielte Kindermannschaft. Das war nicht das beste Mittel gegen die Italiener. Paolo Rossi schoss alle drei Tore. 3:2. Es waren Tore wie Sentenzen, unerbittlich, Triumphe des Opportunismus.

«Ich habe Brasilien zum Weinen gebracht» – so heissen auch seine Memoiren. Einige Zeit später machte Rossi einmal bei einem Freundschaftsspiel in Brasilien mit. Nach der ersten Halbzeit musste er ausgewechselt werden, es war eine Schutzmassnahme: Die Zuschauer hatten ihn mit allem beworfen, Flaschen, Münzen, Eiern.

Wegbereiter zum WM-Titel

Der Sieg über Brasilien am Mundial sollte sich zum Mythos verdichten, er trug die Italiener zum Titel. Auch im Final gegen Deutschland, beim 3:1 im Bernabéu, gelang Rossi das erste Tor. Im Kopf bleibt der wunderbare Torjubel von Marco Tardelli nach dem zweiten Treffer, dieser Befreiungslauf durch das halbe Stadion. Doch natürlich gewann Italien dank «Pablito», dank Toren «alla Paolo Rossi». Dieser Begriff bürgerte sich ein, er steht für gestohlene, irgendwie ergaunerte, grossartige Tore, die in der Sekunde zuvor niemand kommen sah, kein Verteidiger, kein Torhüter. Für Italien war der Sieg eine Atempause, ein seltener Augenblick der Leichtigkeit: Das Land wurde zerrissen vom Terror roter und neofaschistischer Organisationen, seit Jahren schon. Die bleierne Ära, sie war für einen kurzen Moment gebrochen.

Rossi erzielt im WM-Final 1982 gegen Deutschland das 1:0. Am Schluss wird Italien dank einem 3:1-Sieg Weltmeister.

Rossi erhielt den Ballon d’Or des weltbesten Fussballers. Aus dem Staub zu den Sternen, völlig unverhofft. Danach spielte er noch für Juve, Milan und Verona. Aber eben: Das war Beigemüse zu einer Karriere im nationalen Azur, der einzigen Farbe, die ihm wirklich wichtig war. 48 Länderspiele absolvierte er nur, manche aber gruben sich ins kollektive Gedächtnis der Italiener.

Mit 30 Jahren hörte er auf. Seine Knie waren zerschunden, drei Mal hatte er sich schon die Menisken operieren lassen müssen. Er wurde Fernsehkommentator, bei allen trat er auf: Rai, Mediaset, Sky. Und weil er sich selbst nie übermässig ernst nahm und diesen fein sarkastischen toskanischen Witz in sich trug, war er immer beliebt. Er heiratete noch einmal und wurde drei weitere Male Vater, als Grossvater schon. Rossi kaufte sich im Hinterland von Arezzo einen ganzen Weiler mit Häusern, die er zum «Agriturismo» umbaute, zum grossen Landgasthof. Das war ihm der liebste Ort.

Vor einiger Zeit ging er mit Rückenschmerzen zum Arzt. Ein Bandscheibenvorfall? Eine Folge der Karriere? Der Arzt fand einen Lungentumor. Seine Frau postete die Todesnachricht auf Instagram, ein Bild des Paars und eine Widmung: «Per sempre.» Für immer. Uno di noi.

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