Neue Premierministerin Liz TrussDer Streit mit der EU ist programmiert
London dürfte auch künftig hart gegenüber Brüssel auftreten. Dort hofft man dennoch, dass die britische Regierungschefin ein umstrittenes Gesetz stoppt.
Als Liz Truss vor einer Woche gefragt wurde, ob sie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron für einen «Freund oder Feind» halte, antwortete sie: «The jury is still out», was in etwa so viel heisst wie: Das ist noch nicht entschieden.
Ob Truss diesen doch recht unfreundlichen Ton gegenüber Frankreich und anderen europäischen Staaten als Premierministerin beibehält, wird sich zeigen. In Paris, Brüssel und Berlin ist man jedenfalls darauf gefasst, dass nach Theresa May und Boris Johnson erneut eine Tory-Chefin in 10 Downing Street einzieht, die sich darüber definiert, möglichst hart gegenüber der EU aufzutreten.
Kandidatin der Brexiteers muss Glaubwürdigkeit wahren
Dass Truss davon nicht abweichen dürfte, hat vor allem zwei Gründe. Erstens: Im Rennen um Johnsons Nachfolge war sie die Kandidatin der Brexiteers. Anders als ihr Kontrahent Rishi Sunak hat Truss es verstanden, sich die Unterstützung der EU-Gegner zu sichern, und zwar nicht nur in ihrer Partei, sondern auch in einflussreichen konservativen Medien. Truss gelang dies, weil sie bereits als Aussenministerin gezeigt hat, dass sie durchaus in der Lage ist, Brüssel die Stirn zu bieten.
Und das ist sogleich der zweite Grund, warum sich das Verhältnis zwischen EU und Grossbritannien nicht so rasch entspannen dürfte: Truss muss gegenüber der EU weiter hart auftreten, ansonsten würde sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren. So sehen das nicht nur ihre Unterstützer in London, so schätzt man das auch in Brüssel, Paris und Berlin ein.
Aus EU-Sicht entscheidet sich das künftige Verhältnis mit Grossbritannien vor allem an einem Thema: Nordirland.
Im Fall von Truss sei die Frage der Glaubwürdigkeit sogar noch wichtiger als bei Johnson, sagt ein EU-Diplomat, schliesslich habe sie beim Brexit-Referendum für den Verbleib Grossbritanniens in der EU gestimmt. Da müsse sie nun umso mehr zeigen, dass sie es ernst meine mit dem Brexit. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Liz Truss gibt sich ‹wie einst Maggie›».)
Daran besteht bislang kein Zweifel. Als britische Aussenministerin war Liz Truss zuletzt auch für die Verhandlungen mit der EU zuständig. Wenn man Brüsseler Beamte fragt, wie die Zusammenarbeit mit ihr so gewesen sei, ist meistens Augenrollen die Antwort. Truss sei zwar freundlicher und verbindlicher als ihr Vorgänger, der frühere Brexit-Minister David Frost, nur: Das anfangs gute Gefühl am Verhandlungstisch sei schnell verflogen, als Truss wieder zu Hause in London gewesen sei. Da habe sie dann den Brexit-begeisterten Zeitungen nur gesagt, wie schrecklich unflexibel die «Brüsseler Bürokraten» doch seien. (Lesen Sie auch den Artikel «EU leitet Verfahren gegen London wegen Nordirland-Streits ein».)
London könnte bald Teile des Brexit-Vertrags aushebeln
Nun, aus EU-Sicht entscheidet sich das künftige Verhältnis mit Grossbritannien vor allem an einem Thema: Nordirland. Brüssel ist erst bereit, wieder ernsthafte Verhandlungen aufzunehmen, wenn Truss ihre «geladene Pistole» vom Tisch nimmt. So nennen EU-Diplomaten jenes Gesetz, mit dem London Teile des Brexit-Vertrags aushebeln könnte. In Brüssel hofft man, dass Truss das Vorhaben stoppt, doch bislang gibt es dafür keine Anzeichen. Ganz im Gegenteil.
Im Kern geht es im Streit zwischen Brüssel und London um das sogenannte Nordirland-Protokoll. Es ist Teil des Austrittsvertrags, den die britische Regierung mit der Europäischen Union nach dem Brexit-Votum geschlossen hat. Oberstes Ziel war es, Warenkontrollen an der kaum wahrnehmbaren Landesgrenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland zu verhindern, um den Friedensprozess nicht zu belasten.
London und Brüssel einigten sich deshalb darauf, dass sich die einstige Unruheprovinz trotz des Brexits weiter an Produkt- und Zollvorschriften der EU hält. Und so werden grundsätzlich EU-Zölle auf Produkte aus England, Schottland und Wales fällig, bei denen das Risiko besteht, dass sie von Nordirland weiter nach Irland transportiert werden, also in den Binnenmarkt der Europäischen Union. Die umstrittene Regelung hat dazu geführt, dass britische Stahlhersteller für bestimmte Lieferungen aus Grossbritannien nach Nordirland mittlerweile 25 Prozent Zoll zahlen müssen. (Lesen Sie zum Thema auch die Artikel «Johnson fühlt sich nicht länger an Verträge gebunden» und «Johnson riskiert einen Handelskrieg mit der EU».)
Aus Sicht der Brexiteers ist der Status quo nicht haltbar, schliesslich ist die Provinz nicht mehr gleichberechtigter Teil des Vereinigten Königreichs. Dass Johnson dieser Regelung zugestimmt hat, spielt für sie eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist den Brexit-Verfechtern nur eines: Es muss sich etwas ändern. Das sieht man in Brüssel mitunter auch so, die Frage ist nur: Was genau?
Wenn Menschen bestimmte Ämter haben, ändern sich manche Dinge manchmal ganz unerwartet.
Dass der Streit mit einer Premierministerin Truss rasch geklärt werden kann, ist eher unwahrscheinlich. Andererseits: Wenn Menschen bestimmte Ämter haben, ändern sich manche Dinge manchmal ganz unerwartet. Auf EU-Seite hofft man jedenfalls, dass Truss den Brexit-Streit nicht gleich wieder anfacht. So wird bereits darüber spekuliert, dass sie noch im September Artikel 16 des Nordirland-Protokolls auslösen könnte. Wer sich darauf beruft, kann Teile des Protokolls sofort ausser Kraft zu setzen.
Wie auch immer die neue britische Premierministerin entscheidet, in der EU stellt man sich darauf ein, dass sich die Tories auch unter Truss eher von Ideologie leiten lassen als von Pragmatismus.
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