Nordirland-Protokoll zum BrexitJohnson fühlt sich nicht länger an Verträge gebunden
Ein neues Gesetz soll es London ermöglichen, wichtige Teile des Brexit-Abkommens mit der EU nach Belieben ausser Kraft zu setzen. Das löst heftige Reaktionen von vielen Seiten aus.
Nach monatelangen Drohungen hat die britische Regierung am Montag ein neues Gesetz vorgelegt, das es ihr ermöglichen soll, zentrale Bestandteile ihres Brexit-Vertrags mit Brüssel ohne Zustimmung der EU ausser Kraft zu setzen. Die Gesetzesvorlage soll London eine juristische Handhabe verschaffen zur einseitigen Tilgung vertraglicher Vereinbarungen, die Premierminister Boris Johnson persönlich mit der EU getroffen hat.
Grossbritanniens Oppositionsparteien, etliche konservative Abgeordnete und führende Rechtsvertreter im Lande sehen in der Gesetzesinitiative einen mutwilligen «Bruch internationaler Verträge» durch ihre Regierung. Sie fürchten, dass die EU nicht nur mit rechtlichen Schritten reagieren wird, sondern einen Handelskrieg mit dem Vereinigten Königreich in Erwägung ziehen könnte – und dass Washington weitere Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag mit London stoppt.
«Käme es zu einem Handelskrieg mit Europa, wäre das eine krasse, krasse Überreaktion seitens der Europäer», liess Johnson verlauten. Schliesslich gehe es nur um «eine bürokratische Änderung, die hier vorgenommen werden muss». Aufs Grosse und Ganze gesehen, handle es sich «um eine Reihe relativ trivialer Anpassungen» im Vertrag mit Brüssel. Von einer rechtswidrigen Aktion könne keine Rede sein.
Johnson spricht von «trivialen Anpassungen»
Die «trivialen Anpassungen» betreffen das sogenannte Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags, das Johnson mit Brüssel aushandelte, um die spezielle Lage Nordirlands beim Brexit zu berücksichtigen. Im Nordirland-Protokoll wurde vereinbart, dass die britische Provinz auf der Grünen Insel weiter dem EU-Binnenmarkt angehören soll, damit der Friede in Irland nicht durch neue Grenzkontrollen zwischen dem Norden und Süden gefährdet wird.
Obwohl Johnson das Nordirland-Protokoll anfangs als «tollen Erfolg» pries, hält er es inzwischen für unfair gegenüber Nordirlands Unionisten und potenziell für eine Gefahr für den nordirischen Frieden. Schuld daran sei die EU: «Das Problem ist, dass ich geglaubt hatte, es würde mit Vernunft und Pragmatismus umgesetzt.» Daran habe es aber auf europäischer Seite gefehlt – weshalb London nun eben «selbst etwas unternehmen» müsse.
Das Gesetz zielt darauf, fest vereinbarte Grenzkontrollen für den Fluss von Waren aus England, Wales und Schottland nach Nordirland wieder aufzuheben. Grossbritannien will sich auch der Verpflichtung entziehen können, bei staatlichen Investitionen in Nordirland mit der EU Rücksprache zu nehmen und die Mehrwertsteuer in der Provinz jeweils anzupassen an die der EU.
«Sie können diese Verpflichtungen jetzt nicht einfach verschwinden lassen durch eine blosse Änderung britischen Rechts.»
Der Europäische Gerichtshof soll bei Konflikten nicht mehr in der vereinbarten Weise als höchste Instanz fungieren. Ansonsten soll London die Möglichkeit erhalten, auch andere Bestimmungen nach Belieben ausser Kraft zu setzen. Nur sehr wenige Punkte des Protokolls sollen unangetastet bleiben, auf die Zukunft hin. Eine erste Einschätzung der «Financial Times» in London ging davon aus, dass Johnson sich hier «massive Rechte» verschaffen wolle, um das Nordirland-Protokoll «unwirksam» zu machen.
Westminster-Beobachter gehen generell davon aus, dass Johnson den Brexit-Hardlinern seiner Parteirechten weitgehend nachgegeben hat. Auch nach Ansicht seiner eigenen Parteikollegen müht sich der Regierungschef darum, die Anti-Europäer im Tory-Lager freundlich zu stimmen – zumal nach der jüngsten Vertrauensabstimmung in der Fraktion und unter wachsendem Druck durch seine Partei.
Insbesondere Aussenministerin Liz Truss, die für den Wortlaut der Gesetzesvorlage verantwortlich war, hatte in den letzten Tagen den Druck verstärkt auf Johnson. Sie hatte, nach vertraulichen Gesprächen mit der Hardliner-Fraktion, den Gesetzestext offenbar verschärft. Einzelne Minister stellten sich ihr im Kabinett entgegen. Und Johnson forderte sie auf, nicht zu weit zu gehen.
Premierminister geriet zwischen zwei Fronten
Am Ende fand sich der Premier aber zwischen zwei Fronten: Zwischen den Brexiteers, die auf einen neuen Frontalzusammenstoss mit der EU hoffen, und eher moderaten Tories, die wie die Opposition fürchten, dass das neue Gesetz Grossbritannien international schweren Schaden zufügen wird. Der frühere Tory-Präsident Chris Patten zum Beispiel – heute Lord Patten – erklärte, dass das neue Gesetz «totaler Wahnsinn» sei. Ex-Premierministerin Theresa May hatte Johnsons Initiative ebenfalls scharf kritisiert.
Während Johnson, Truss und Nordirland-Minister Brandon Lewis am Montag darauf bestanden, dass die geplante Massnahme «vollkommen legal» sei, enthüllte einer der Top-Rechtsberater der Regierung, Sir James Eadie, dass er gar nicht um seine Meinung gefragt worden war. Sir Jonathan Jones, der frühere Chef der Rechtsabteilung der Regierung, meinte, die Regierenden seien immerhin «eine bindende internationale Vereinbarung» eingegangen: «Sie können diese Verpflichtungen jetzt nicht einfach verschwinden lassen durch eine blosse Änderung britischen Rechts.»
In Nordirland stiess die Regierungsinitiative aus London auf besonders starke Reaktionen. Der Unionisten-Führer Sir Jeffrey Donaldson, der im Protest gegen das Nordirland-Protokoll alle Zusammenarbeit mit der Republikaner-Partei Sinn Fein boykottiert, will erst wieder kooperieren, wenn das Protokoll faktisch «abgeschafft», die Vorlage also geltendes Recht geworden ist.
«Es ist eine Schande, dass der Norden Irlands als Verhandlungsmasse für eine weitere Kollision mit Europa benutzt wird.»
Die Sinn-Fein-Vorsitzende Mary Lou McDonald andererseits, in deren Urteil das Protokoll generell gut funktioniert, fürchtet von den Londoner Plänen «enormen wirtschaftlichen Schaden» für ganz Irland: «Es ist eine Schande, dass der Norden Irlands als Verhandlungsmasse für eine weitere Kollision mit Europa benutzt wird – und das alles nur, um das Ego und die Führungsambitionen von Boris Johnson oder seinen Möchtegern-Nachfolgern zu nähren.»
In Dublin war man besonders aufgebracht am Montag. Nach einem Telefongespräch mit Ministerin Truss erklärte deren irischer Amtskollege Simon Coveney: «Die britische Regierung will sich jetzt also über internationales Recht hinwegsetzen. Sie lehnt alles partnerschaftliche Vorgehen ab, will die Mehrheit der Menschen in Nordirland ignorieren und ganz bewusst die Spannungen mit einer EU verschärfen, die ihrerseits nach Kompromissen sucht.»
Unklar war zu Beginn dieser Woche noch, ob es die Gesetzesvorlage überhaupt durchs Parlament schaffen wird in den nächsten 18 Monaten. Allein schon das Oberhaus, in dem es wenig Sympathie für das Gesetz gibt, kann den Prozess monatelang verzögern, wenn es will.
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