Ukraine-Krieg verschärft UmweltkriseDer neue «Gasrausch» ist fatal fürs Klima
Der Westen will sich von russischem Erdgas lösen und investiert Hunderte Milliarden in neue fossile Infrastruktur. Das torpediert das Pariser Ziel, die Erderwärmung zu senken.
Klimapolitiker nehmen das Wort gern in den Mund: Aufbruch. Grossbritannien zelebrierte ihn geradezu an der Klimakonferenz im letzten November in Glasgow. «Die Kohle ist nicht mehr König», sagte Konferenzpräsident Alok Sharma. Weil Staaten wie Polen, Indonesien, Vietnam – und China – dem klimaschädlichen schwarzen Gold den Rücken kehren wollen.
Und nun? Wenige Monate später reden Klimaforscher von einem anderen Aufbruch. «Es ist ein Goldrausch», sagt Mia Moisio vom New Climate Institute. Sie spricht nicht von einem unbändigen Hunger nach Wind- und Solarenergie. Sie spricht von Erdgas und den Plänen für neue Pipelines und Terminals für Flüssiggas. Tatsächlich plant die westliche Welt, allen voran Europa, Hunderte von Milliarden in die fossile Energie zu investieren, um sich von der russischen Abhängigkeit zu befreien.
«Es besteht das Risiko, dass die Pariser Klimaziele untergraben werden.»
Die Energiewende kam in Europa in den letzten Jahren nur schleppend voran, und mit dem brutalen Krieg in der Ukraine haben die wenigsten gerechnet. Die europäischen Energieversorger in Europa waren darauf nicht vorbereitet. Nun müssen im Schnellgang neue fossile Quellen her, namentlich Erdgas, um die Versorgung zu sichern, bis genügend erneuerbare Energie vorhanden ist. «Mit diesen Bestrebungen zu mehr Gasimport und -export besteht das Risiko, dass das Ziel des Pariser Klimaabkommens untergraben wird», sagt Mia Moisio.
Klimaziele unerreichbar?
Die Politikwissenschaftlerin ist für das Projekt «Climate Action Tracker» der beiden internationalen Forschungsinstitute Climate Analytics und New Climate Institute mitverantwortlich, die seit Jahren den Erfolg der internationalen Klimapolitik einordnen. «Wir riskieren eine weitere Dekade mit hohen CO₂-Emissionen, der Pariser Klimavertrag scheint unerreichbar», schreiben sie in ihrem Bericht. Die 28 grössten Erdölfirmen haben gemäss einem Bericht des britischen «Guardian» im ersten Quartal dieses Jahres gut 100 Milliarden Dollar verdient, so viel wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren.
Die Suche nach neuen fossilen Quellen und der geplante Auf- und Ausbau neuer fossiler Infrastruktur geschieht mit dem Argument, den Fluss von russischem Gas zu stoppen. Die Liste der geplanten Projekte ist lang:
Deutschland, Italien, Griechenland und die Niederlande planen neue Terminals für den Import von Flüssiggas (LNG). Deutschland will kurzfristig vier neue schwimmende Importterminals und bis 2027 zwei stationäre bauen. «Das könnte zu einem Gasangebot in der EU führen, das um ein Viertel höher ist als zuvor», schreiben die Forschenden von Climate Action Tracker. «Die bisherigen Pläne könnten das Gasangebot im Vergleich zu 2020 verdoppeln», sagt Mia Moisio vom New Climate Institute. Zudem könne die Nutzung von Flüssiggas über die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet mehr Treibhausgasemissionen verursachen als Kohle, wenn das Gas für die Stromproduktion eingesetzt werde, heisst es im Bericht von Climate Action Tracker. Kanada will den Export von Flüssiggas erhöhen.
Die USA haben einen Vertrag für den Export von zusätzlichem Flüssiggas in die EU unterzeichnet. Einen ähnlichen Vertrag haben Katar und Ägypten mit Deutschland vereinbart. Katar hat angekündigt, den LNG-Export zu verdoppeln.
Nigeria, Niger und Algerien wollen die alte Trans-Sahara-Pipeline für den Gastransport reaktivieren, und Senegal, das bisher noch nie Gas exportiert hat, will nun Europa welches anbieten.
Die fossile Produktion ist in den USA, Norwegen, Kanada und Japan angestiegen. Shell hat ein Erdölbohrprojekt in der Nordsee storniert, weil Erdölförderung nicht mehr profitabel sei. Die Preise sind nun so gestiegen, dass der Energiemulti den Entschluss nochmals überdenken will.
Verschiedene europäische Staaten, aber auch Japan und die USA überlegen sich, den Ausstieg aus der Kohle zu verzögern.
Das Handelsembargo für Erdöl, Erdgas und Kohle aus Russland hat dazu geführt, dass Regierungen mit Moskau langfristige Verträge abschliessen und zu günstigen Konditionen fossile Energie einkaufen, wie es im Bericht von Climate Action Tracker heisst. Indien zum Beispiel hat billig russisches Erdöl gekauft, das in Europa nicht mehr gehandelt wurde. China hat mit Russland langfristige Verträge vereinbart. Auch Serbien wird von Russland in den nächsten drei Jahren jede Menge Gas beziehen. Somit hat Putin sein Portfolio mit verschiedenen Käufern vergrössert.
Entgegen dem Klimarat
Diese Entwicklung steht konträr zu den Appellen des Weltklimarats IPCC. In seinem jüngsten Bericht im Februar schrieb er, dass die Infrastruktur für fossile Energie nicht weiter ausgebaut werden dürfe. Werden Kraftwerke, Industrieanlagen, Heizungen und Fahrzeuge gemäss den bislang üblichen Lebenszyklen weiterbetrieben, ist allein dadurch mit Emissionen von rund 660 Milliarden Tonnen CO₂ zu rechnen, wie eine Studie des Fachmagazins «Nature» 2019 gezeigt hat. Das wäre jetzt schon deutlich mehr als der IPCC budgetiert, um das Pariser 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Der Weltklimarat geht davon aus, dass nicht mehr als 880 Milliarden Tonnen CO₂ ausgestossen werden dürfen, damit die Erde sich mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht um mehr als 2 Grad erwärmt.
Für die Forschenden von Climate Action Tracker gibt es zwei Entwicklungen, die der momentane «Gasrausch» auslösen könnte: Entweder die Welt steuert in eine Erwärmung weit über 2 Grad, oder das Volumen der sogenannten Stranded Assets nimmt massiv zu. Stranded Assets sind in diesem Fall die fossile Infrastruktur, die nichts mehr Wert sein wird, sobald sie durch erneuerbare Energie abgelöst wird. Gemäss IPCC gibt es heute schon eine fossile Infrastruktur im Wert von Billionen Dollar, die bis 2050 wertlos sein wird, falls die Vertragsstaaten das Pariser Klimaabkommen umsetzen. Mit jeder Investition riskiert man heute eine neue milliardenschwere fossile Infrastruktur, die nicht abbezahlt werden kann.
Letzteres könnte der Fall sein, wenn eintrifft, was die EU trotz Energiekrise verspricht und die Klimaminister der G-7-Wirtschaftsmächte im Mai nochmals betont haben: An den Klimazielen wird nicht gerüttelt, die erneuerbaren Emissionen werden weiter mit aller Kraft vorangetrieben, die Subventionen für fossile Energie fallen und die aktuellen Investitionen, vor allem in die Gasinfrastruktur, sind nur vorübergehend, bis die Energiekrise durch Russland überstanden ist.
Wie lange das gehen wird, ist aber bislang schwierig abschätzbar. Kurzfristig empfehlen die Forscher, was die Internationale Energieagentur IEA vor kurzem schon getan hat: Die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen um 10 Kilometer pro Stunde zu reduzieren, die Raumtemperatur in Privathaushalten und Büros um 1 Grad zu senken, den öffentlichen Verkehr zu fördern. Kurz gesagt: Energie sparen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.