Interview mit Medi24-Chef«Der Lockdown war für mich ein Glücksfall»
Bis zum Frühling hat Lebrecht Gerber, Chef von Medi24, 80 Stunden und mehr pro Woche gearbeitet. Die Corona-Zäsur hat ihn umdenken lassen.
Viele Büros sind verwaist, weil die Angestellten auf Empfehlung des Bundesrats im Homeoffice arbeiten. Bedauern Sie das als Chef?
Für die Unternehmenskultur ist es eine Herausforderung. Unsere Ärzte und Pflegefachleute arbeiten zwar schon länger dezentral, aber ich habe immer darauf gepocht, dass wir uns regelmässig an einem Teamtag physisch hier in Bern treffen und uns Zeit nehmen für einen intensiven Austausch. Gerade für die, die neu an Bord kommen, ist das wichtig. Nur so entsteht ein Kitt, gelingt die Identifikation. Für mich persönlich war der Lockdown im März aber ein Glücksfall.
Weshalb?
Weil er mich gezwungen hat, endlich wieder einmal ganz runterzufahren. Vorher war ich alle paar Tage in einer anderen Stadt, pendelte zwischen Bern, Zürich, Paris, München und Dublin hin und her und wusste am Freitag kaum mehr, was ich am Montag gemacht hatte. War ich in Paris, hatte ich am Abend noch Onlinemeetings mit Bern, war ich in Bern, besuchte ich Kunden in der ganzen Schweiz oder plante die nächste Sitzung am Hauptsitz der Allianz-Gruppe in München. Mir wurde erst durch den Lockdown bewusst, wie unglaublich eng mein Leben getaktet war und wie viel mir entging durch meinen Tunnelblick.
Zum Beispiel?
Ich hatte das Privileg, den Lockdown mit meiner Partnerin im Ferienhaus in Adelboden zu verbringen. Wir erwarteten damals unser erstes gemeinsames Kind. Ich hatte Zeit für die Beziehung, sah erstmals seit langem wieder die Schönheit der Natur. Vorher war ich von Stadt zu Stadt geeilt und hatte kaum etwas davon gesehen.
Wie viele Stunden pro Woche haben Sie gearbeitet?
70 oder eher 80 Stunden pro Woche waren normal, manchmal auch mehr. Ich war derart im Hamsterrad, dass ich mir nicht gross überlegt habe, was das für meine Partnerin und mein Umfeld bedeutet. Ich bildete mir etwas darauf ein, ein überdurchschnittlich empathischer Chef zu sein, aber im Privatleben, fürchte ich, war ich teilweise wenig rücksichtsvoll.
War es Ihnen nicht wichtig genug?
Ich bin in jungen Jahren rasch die Karriereleiter hochgeklettert – das wirkt wie ein Sog. So half ich mit, die Erfolgsgeschichte von Medi24 ins digitale Zeitalter zu bringen und durfte die Verantwortung für Global Health Services bei der Allianz-Partners-Gruppe übernehmen. Die Manager, mit denen ich zu tun hatte, waren alle ähnlich unterwegs. Eine Achtsamkeits-App reicht nicht, um diesem Hamsterrad zu entkommen. Der Lockdown war für mich eine grosse Zäsur. Zuerst galt es, rasch vieles neu zu organisieren. Dann war ich in einer Art Vakuum, und es meldeten sich Fragen.
Etwa die, ob man wirklich einen so hohen Preis zahlen muss für eine steile Karriere und ob es einem das wert ist. Ihre Antwort?
Für mich habe ich während des Lockdown rausgefunden: Man kann auch in 50 Stunden pro Woche seine Verantwortung als Chef voll und ganz wahrnehmen und einen guten Job machen, wenn man weniger reist, den Angestellten mehr Vertrauen schenkt und unnötige Sitzungen und andere Leerläufe eliminiert. Der nächste Schritt ist, das nicht nur zu erkennen, sondern auch zuzugeben. In der Chefetage gilt es vielerorts als Zeichen von Stärke und Unentbehrlichkeit, 90 Stunden oder mehr zu arbeiten. Ich will nicht mehr in diesen Trott zurück, will keine Calls abends um 22.30 Uhr mehr machen und keine Wochenenden mehr durcharbeiten. Ich glaube, die Zeit ist reif für Manager, die sich nicht mehr darüber definieren, wie viel sie arbeiten.
«Auffallend ist, dass die Gespräche länger dauern. Gerade ältere Menschen leiden unter der Isolation.»
Haben Sie den Eindruck, bei anderen Führungskräften habe auch ein Umdenken eingesetzt?
Manche werden versuchen, möglichst bald wieder zum «courant normal» zurückzukehren. Viele haben aber gemerkt, dass die Resultate nicht schlechter ausfallen, wenn man die Leute weniger kontrolliert, sie mehr nach ihrem eigenen Rhythmus arbeiten lässt. Zu manchen Geschäftspartnern habe ich heute ein persönlicheres Verhältnis, weil ich sie im Zoom-Meeting in ihrer Wohnung gesehen habe, teilweise mit Kindern im Hintergrund. Und ich selber geniesse es sehr, mehrmals pro Tag meine fünfmonatige Tochter in den Arm nehmen zu können und mit der Familie zu essen.
Sie leiten einen der grossen Schweizer Telemedizin-Anbieter. Sind die Leitungen in der aktuellen Situation permanent besetzt?
Die Anrufe entwickeln sich ziemlich analog zu den Corona-Zahlen. Im Frühling vor dem Lockdown lagen die Anrufquoten 70 Prozent über dem Vorjahr. Während des Lockdown gabs eine Delle, weil die Leute sich vor Arztbesuchen fürchteten, nun laufen die Drähte seit einer Woche wieder heiss. Was die Leute speziell verunsichert, ist, dass das Contact-Tracing nicht mehr funktioniert, dass sie zum Teil erst eine Woche nach einem positiven Test kontaktiert werden. Zudem ist verwirrend, dass die Regeln von Kanton zu Kanton anders sind. Und auffallend ist auch, dass die Gespräche länger dauern. Gerade ältere Menschen leiden unter der Isolation.
95 Prozent der Konsultationen finden nach wie vor am Telefon statt. Ist das noch zeitgemäss?
Wir haben hauptsächlich drei Aufgaben: medizinische Fragen beantworten, die Behandlungsdringlichkeit abschätzen und die Kunden an geeignete Leistungserbringer weiterverweisen. Die Technik kann den Menschen immer besser unterstützen, etwa in Form von digitalen Symptomchecks. Wir beobachten sehr genau, was im Silicon Valley und in anderen Innovations-Hotspots entwickelt wird. In Israel läuft zum Beispiel aktuell ein gigantisches Projekt, bei dem zwei Millionen Patientendossiers digitalisiert wurden zwecks Entwicklung einer lernenden künstlichen Intelligenz. Ich sehe aber nicht, dass der Mensch in den nächsten fünf Jahren entbehrlich würde.
* Mathias Morgenthaler war Wirtschaftsredaktor bei Tamedia und ist heute als Autor, Coach und Referent tätig. Er ist Autor der Bestseller «Aussteigen – Umsteigen» und «Out of the Box» und Betreiber des Portals www.beruf-berufung.ch
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