Plan gegen drohende StromlückeBundesrat will Gaskraftwerke bauen
Der Bundesrat will die Gefahr von Strommangellagen ab 2025 abwenden – mit dem Bau eines oder mehrerer Gaskraftwerke sowie einer Wasserkraftreserve für den Winter.

Eine sichere Stromversorgung hat oberste Priorität: Mit dieser Botschaft hat Energieministerin Simonetta Sommaruga heute Morgen klargemacht, dass der Bundesrat die bestehende Gefahr einer Strommangellage ab 2025 abwenden will. Nebst einer Wasserkraftreserve für die Wintermonate setzt er neu auf den Bau eines oder mehrerer Gaskraftwerke. Es gehe dabei um eine Absicherung für den Notfall, sagte Sommaruga. «Es ist eine Versicherungslösung. Wir können das vertreten, auch klimapolitisch.» Die Werke, so sagte sie, sollen klimaneutral betrieben werden.
Wie sieht das Konzept der Eidgenössischen Elektrizitätskommission aus?
Die Elcom geht in ihrem heute veröffentlichten Bericht davon aus, dass im Extremfall ab 2025 über mehrere Wochen ein Strommangel herrschen könnte. Gründe sind: Ausserbetriebnahmen deutscher Kernkraftwerke, fehlendes Stromabkommen mit der EU, tendenziell abnehmende Verfügbarkeiten der Schweizer und französischen Kernkraftwerke, keine substanziellen Investitionen der Energiewirtschaft in die Winterproduktion. Die Elcom sieht deshalb vor, um für den Extremfall gewappnet zu sein, gestaffelt zwei bis drei Gaskraftwerke mit einer Leistung von 200 bis 550 Megawatt zu bauen. Die Leistung der Kraftwerke soll insgesamt bis zu 1000 Megawatt betragen. Das entspricht etwa der Leistung des AKW Gösgen. Die Gaskraftwerke dürfen gemäss Elcom nur in Ausnahmesituationen zum Einsatz kommen, falls der Strommarkt die Energienachfrage in der Schweiz nicht mehr decken kann. Die Gaskraftwerke könnten auch auf Heizölbetrieb umgerüstet werden, wenn es Gasknappheit gäbe.
Werden die Gaskraftwerke nur Strom produzieren?
Am effizientesten sind zwar so genannte Gaskombikraftwerke, die Strom produzieren und die Abwärme für eine Dampfturbine bereitstellen, die wiederum Strom produziert. Sie erreichen einen Gesamtwirkungsgrad von rund 80 Prozent. Das heisst: 80 Prozent der im Erdgas gespeicherten Energie können genutzt werden. Wenn nur Strom produziert wird, beträgt der Wirkungsgrad 60 Prozent. Da die Gaskraftwerke nur im Notfall zum Einsatz kommen sollen, empfiehlt die Elcom aus ökonomischer und technologischer Sicht keine Gaskombikraftwerke zu bauen. Letztere wären nur bei langer Einsatzdauer wirtschaftlich, so die Elcom.
Wie viel CO₂ stossen Gaskraftwerke aus?
Die Elcom rechnet mit Kurzeinsätzen der Gaskraftwerke. Nehmen wir ein Beispiel: Würde ein 500 MW-Gaskraftwerk 400 Stunden mit Volllast arbeiten, würden rund 112’800 Tonnen CO₂ ausgestossen. Zum Vergleich: Die jährlichen CO₂-Gesamtemissionen in der Schweiz betragen etwa 37 Millionen Tonnen.
Wie betreibt man ein klimaschonendes Gaskraftwerk?
Kurzfristig betrachtet sollen die CO₂-Emissionen gemäss Elcom mit dem Zukauf von CO₂-Zertifikaten auf dem Emissionsmarkt kompensiert werden. Es sei denkbar, dass in Zukunft CO₂-freie Brennstoffe zur Verfügung stehen, die es ermöglichen, ein Gaskraftwerk in 20 bis 25 Jahren in ein Gaskombikraftwerk umzubauen, sagt Elcom-Präsident Werner Luginbühl. Zu den CO₂-freien Brennstoffen gehören Biogas oder synthetisches Gas wie Methan. Oder man scheidet CO₂ aus den Abgasen ab. Das Treibhausgas kann danach im Untergrund gespeichert werden. Es ist recht aufwendig, den relativ bescheidenen Anteil an CO₂ aus dem Abgas zu filtern. Durch den zusätzlichen Energieaufwand sinkt die Leistung des Kraftwerks durch die Abscheidung von 80 auf 72 Prozent Wirkungsgrad. Das ist aber eine längerfristige Perspektive weit über 2025 hinaus.
Gibt es bereits eine Liste möglicher Standorte?
Die Elcom hat Abklärungen dazu gemacht, 17 Standorte kommen infrage, darunter sind Kaiseraugst, Kaisten und Birr (alle AG), Gösgen (SO), Perlen (LU), Schweizerhalle (BL), Utzenstorf (BE) sowie in der Westschweziz Chavalon, Chamoson und St. Triphon (alle VS), Cornaux (NE) und Orbe (VD).
Ins Gespräch kam kürzlich insbesondere die grosse Gasturbine für Testzwecke der Firma Ansaldo im aargauischen Birr. Die Leistung dieser Anlage entspricht etwa jener der beiden Kernreaktoren in Beznau.
Ist die Idee von Gaskraftwerken neu?
Nein. Die Option Gas ist Bestandteil der Energiestrategie 2050, die das Stimmvolk 2017 gutgeheissen hat. In seiner Botschaft zur Vorlage schrieb der Bundesrat 2013, die Stromnachfrage werde künftig mit einem Mix aus erneuerbaren Energien gedeckt sowie «soweit nötig aus WKK-Anlagen und Gaskombikraftwerken und Importen». Der Bundesrat ging davon aus, dass schon bis 2020 ein Gaskombikraftwerk notwendig würde (was sich nicht bewahrheitet hat). Und er stellte in Aussicht, dass es zu einem späteren Zeitpunkt eventuell weitere Werke brauche.
Was sagen die Parteien?
Keine Partei propagiert derzeit den Bau eines Gaskraftwerks offensiv. Als mögliche Lösung, um die Stromversorgung zu sichern, ist ein solches Kraftwerk aber für die Mehrheit der Parteien eine Option, wie eine Umfrage dieser Zeitung zeigt. Selbst für SP, Grüne und GLP ist der Einsatz von Gas vorstellbar – allerdings nur, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Dazu zählen diese Parteien etwa die erneuerbaren Energien sowie die Kapazitäten zur Stromspeicherung nun schnell auszubauen und die Stromverschwendung zu mindern. Ihrer Ansicht nach dürften Gaskraftwerke zudem nur zu Spitzenzeiten und als Übergangslösung betrieben werden. Keinesfalls dürften sie die laufenden Bemühungen für die Energiewende bremsen.
Geht der Konsens noch weiter?
Ja. Weitgehend Einigkeit herrscht, dass die Gaskraftwerke oder, als weitere Option, dezentrale Wärmekraftkoppelungsanlagen CO2-neutral betrieben werden. Dabei gibt es aber Nuancen. Für die FDP etwa soll das «wenn immer möglich» der Fall sein, für die Grünen und die GLP wäre es zwingend. Etwas weniger streng sieht es die SP. Fraktionschef Roger Nordmann hält es nicht für «dramatisch», wenn eine solche Anlage einige Stunden im Jahr mit fossilem Gas unkompensiert betrieben wird. «Wenn im Gegenzug die Elektrifizierung des Verkehrs vorangetrieben würde, wäre für das Klima selbst so viel mehr gewonnen.»
Wer ist gegen Gaskraftwerke?
Der Klimastreik ist dezidiert dagegen. Letzte Woche hat er eine Petition lanciert, die mittlerweile gut 2600 Personen unterschrieben haben. Adressatin ist Simonetta Sommaruga. Die Umweltministerin solle dafür sorgen, dass es keinen Bau neuer Gaskraftwerke oder einen Ausbau bestehender Kraftwerke geben wird. Erdgas sei nebst Kohle und Erdöl der dritte fossile Brennstoff, der hauptverantwortlich für die Klimakrise sei, argumentieren die Klimaschützer. Jonas Kampus vom Klimastreik kündigt an, der Klimastreik werde zu Protesten und Aktionen aufrufen, sollte sich die Debatte um Gaskraft fortsetzen oder intensivieren. Als «Ultima Ratio» bezeichnet er Aktionen des zivilen Ungehorsams, sollte sich der Bau oder der Ausbau der Gaskraft nicht mehr anders verhindern lassen.
Soll der Bund mitzahlen?
Dieser Punkt dürfte noch zu reden geben. Die FDP stellt sich auf den Standpunkt, dass der Bau und der Betrieb von Kraftwerken weiterhin Sache der Stromwirtschaft sein solle. Der Bund solle aber attraktive Rahmenbedingungen dafür schaffen, etwa beschleunigte Bewilligungsverfahren. Dies findet auch die GLP im Grundsatz, eine finanzielle Unterstützung des Bundes will sie aber nicht von vornherein ausschliessen. Ein solches Engagement müsste sich aber auf das nötige Mass beschränken und vorzugsweise verursachergerecht von den Konsumenten refinanziert werden. Für die Haushalte dürfte der Strom teurer werden. Für die Gaskraftreserve wird laut Bundesamt für Energie (BFE) ein Netzzuschlag zwischen 0,14 und 0,17 Rappen pro Kilowattstunde nötig, für die geplante Wasserkraftreserve kommen nochmals 0,1 dazu, macht also 0,25 Rappen. Für einen vierköpfigen Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 5000 Kilowattstunden wären das also zusätzliche Kosten von maximal 12,50 Franken pro Jahr.
Was sagen SP und Grüne?
Die SP findet, der Bund solle sich finanziell zwingend beteiligen und strenge Auflagen daran knüpfen. Andernfalls, so befürchtet die Partei, würden private Investoren ein Gaskraftwerk nicht nur als Back-up für den Notfall einsetzen, sondern es während der meisten Zeit laufen lassen, um es zu amortisieren. «Das wäre desaströs für das Klima», sagt Nordmann. Anders die Grünen. Der Bund soll sich ihrer Ansicht nach an «solchen Fehlinvestitionen nicht beteiligen».
Wie viel würde der Bau eines neuen klimaneutralen Gaskraftwerks kosten?
Die Elcom beziffert die Investitionskosten für die Reservegaskraftwerke auf insgesamt maximal rund 700 bis 900 Millionen Franken. Könnten bestehende Anlagen und Infrastrukturen genutzt werden, könnten die Kosten tiefer liegen.
Die Betriebskosten betragen 6 Millionen Franken pro Jahr und die Brennstoffkosten zwischen 138’000 und 243’000 Franken pro produzierte Gigawattstunde (GWh), falls die Gaskraftwerke tatsächlich zum Einsatz kommen.
Hat der Bundesrat weitere Massnahmen geplant?
Ja. Er will eine sogenannte Wasserkraftreserve einrichten. Diese sieht vor, dass Betreiber von Speicherkraftwerken gegen eine finanzielle Entschädigung eine bestimmte Menge Energie zurückbehalten, die bei Bedarf abgerufen werden kann. Einführen will der Bundesrat das Instrument auf dem Verordnungsweg, damit es bereits im nächsten Winter zum Einsatz kommen kann. Später soll eine Lösung auf Gesetzesstufe verankert werden, und zwar im Stromversorgungsgesetz, das das Parlament derzeit revidiert.
Was sagt die Strombranche dazu?
Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) begrüsst auf Anfrage das Vorgehen und die rasche Umsetzung einer Wasserkraftreserve «als wertvollen Beitrag für die Versorgungssicherheit im Winter». Ein vergleichbares Instrument gibt es in der Schweiz bis jetzt nicht, viele Punkte sind im Detail noch offen, etwa wie sichergestellt werden kann, dass diese Reserve den Strommarkt nicht beeinflusst. Für Speicherkraftwerke sind Herbst und Winter ein aus wirtschaftlicher Sicht wichtiger Zeitraum, in dem sie zu einem grossen Teil ihre Investitionskosten decken müssen. In dieser Phase mit potenziell hohen Preisen würden sich die Betreiber also bereit erklären, dass ihnen mit der Energiereserve eine bestimmte Menge an Speicherwasser entzogen wird. «Diese Opportunitätskosten müssen entgolten werden», sagt VSE-Sprecherin Claudia Egli. Es brauche zudem eine hohe Eintrittsschwelle für den Abruf der Energiereserve. Eine vorzeitige Auslösung einer Reserve sei zu verhindern, damit der Markt nicht ausgehebelt werde.
Wann soll das erste Gaskraftwerk stehen?
Ob die neuen Werke bis 2025 stehen, ist unsicher. Die Elcom selber hält selbst einen späteren Zeitpunkt, nämlich 2026, für sportlich. Volksabstimmungen sowie Einsprachen an den betroffenen Standorten könnten den Bau verzögern oder gar verhindern. Hinzu kommt: Die meisten Kantone lassen den Bau fossilthermischer Kraftwerke ohne Wärmenutzung, wie sie nun geplant sind, gar nicht oder nur sehr restriktiv zu. So bewilligen beispielsweise mehrere Kantone fossilthermische Kraftwerke nur unter der Bedingung, dass die Wärme «fachgerecht und vollständig genutzt wird», wie aus dem Elcom-Bericht hervorgeht. Die Elcom schreibt weiter, ein Gaskombikraftwerk könne also unter Umständen einfacher bewilligt werden als ein reines Gasturbinenkraftwerk. Beim finalen Entscheid des Anlagentyps könnte die Frage der Bewilligungsfähigkeit also zu einem wichtigen Kriterium werden.
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