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Reisen zu Regimes
Das schlechte Gewissen fliegt mit

Zum Beispiel Saudiarabien: Das arabische Land ist touristisch überaus verlockend, wenn da bloss nicht die Menschenrechte mit Füssen getreten würden. Soll man, darf man trotzdem dorthin reisen?
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André Lüthi, Präsident Globetrotter Group, Bern:
Einmal sehen ist besser als tausendmal hören

André Lüthi.

Muss man ein schlechtes Gewissen haben, wenn man Länder bereist, die zum Teil Diktaturen gleichkommen, die Menschenrechte verletzen? Nein.

Aber: Wer in solche Destinationen reist, hat die Verantwortung und die Pflicht, sich gut vorzubereiten, sich mit dem Land, den Menschen, der Politik und der Kultur auseinanderzusetzen, hinzuschauen und zum Beispiel mögliche Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren und darüber zu berichten.

Die Liste der Länder, die Fragen aufwerfen, ist unendlich lang: Saudiarabien, Burma, China und Nordkorea bilden nur die Spitze des Eisberges. Beim wirklich genauen Hinschauen müsste wohl die halbe Welt boykottiert werden. Ein Boykott, der bei Kumulation aller Länder Millionen Arbeitsplätze gefährden würde.
Was ist das kleinere Übel? Ein Reiseboykott wird wohl kein Regime zu einem Richtungswechsel bewegen – leider.

Wie sagte der Dalai Lama zur Situation in Tibet: «Solange Reisende nach Tibet kommen, fliessen Informationen nach Tibet, und es fliessen Informationen hinaus – und das ist gut.» Genau da liegt die Verantwortung. Ein System kann durch ausländische Reisende auch aufgeweicht werden – es kommt zum Austausch mit der Bevölkerung, Fragen werden gestellt, und es wird erzählt.

So ist es mir zum Beispiel auf vier Reisen durch Nordkorea und mehreren Reisen durch Tibet ergangen. Der kritische Austausch und die Diskussionen leisten einen kleinen Beitrag zum Umdenken. Und oft findet man in solchen Ländern anderes vor als das, was die westlichen Medien verbreiten.

Deshalb: «Einmal sehen ist besser als tausendmal hören!» Ich empfehle: sich kritisch und mit offenen Augen ein eigenes Bild machen und danach (ver)urteilen.

Jon Andrea Florin, Geschäftsleiter Fairunterwegs, Basel:
Das wird richtig anstrengend

Jon Andrea Florin.

Wer Ferien bei Diktatoren und Autokraten verbringen will, muss sich auf Arbeit gefasst machen: Vorbereitungs- und Beziehungsarbeit.

Die Vorbereitungsarbeit: Wie reist man durchs Land und steckt möglichst wenig Geld ins System? Sind zum Beispiel kleine, familiengeführte Unterkünfte buchbar? Findet man lokale, vom Regime unabhängige Reiseführerinnen? Wem das Abklären zu zeitraubend ist, der kann auch eine Reise bei einem Anbieter buchen, der sich mit Menschenrechtsfragen auskennt. Länder, die man unter diesen Bedingungen bereisen kann, sind etwa China, die Türkei, Thailand.

Ich reise aber nicht in ein Land, wo das Geld im System landet, etwa in Burma oder Nordkorea, und wo meine Präsenz zu Propagandazwecken missbraucht werden kann.

Jetzt kommt die richtig anspruchsvolle Arbeit: in den Austausch mit den Menschen im Land kommen. Doch kann ich die (Körper-)Sprache so gut, dass ich verstehe, wie es den Menschen geht und sie meine Fragen beantworten? Gelingt der Austausch, lerne ich fremde Welten kennen und kann mich einfühlen. Das bereichert das Leben, ist aber anstrengend.

Darum reise ich sicher nicht zu Diktatoren, wenn es mir vor allem um Erholung und Entspannung geht und Arbeit nicht angesagt ist.

Monika Bandi Tanner, Co-Leiterin Forschungsstelle Tourismus, Uni Bern:
Die eigene Rolle als Tourist hinterfragen

Monika Bandi Tanner.

Das innere Fernweh führt uns nach der Pandemie zu Unbekanntem und auch Rätselhaftem. Dabei locken auch Länder, die Diktaturen sind und wo Menschenrechte mit Füssen getreten werden.

Können Reisen zu einer positiven Veränderung vor Ort beitragen? Bekanntlich fördern touristische Entwicklungen den internationalen Austausch, schaffen Arbeitsplätze, generieren Umsätze und kurbeln damit den regionalen Kreislauf an. Weiter kommen Reiseausgaben im Ausland einem Export gleich und ermöglichen im Gegenzug, dringende Importe von Medikamenten oder Essen auf dem Weltmarkt zu finanzieren. Ebenso bedeutet Tourismus Aufmerksamkeit und bietet globale Integrationsmöglichkeiten. Es besteht für die lokale Bevölkerung die Chance zu einer gesteigerten Lebensqualität und zu interkulturellen Begegnungen.

Aber legitimiert dies Reisen in Länder mit einem Regime? Zentral sind die Verantwortung der Tour-Operators, die derartige Reisen organisieren, und die individuelle Verantwortung der Reisenden.

Mit jeder Reise wird tendenziell ein System gestärkt, ökonomisch und soziokulturell.

In ein fernes Land zu fliegen, ohne sich vorzubereiten, ohne sich mit dem herrschenden politischen System auseinanderzusetzen und die eigene Rolle als Touristin oder Tourist zu hinterfragen, ist nicht nur naiv, sondern verantwortungslos.

Für Destinationen mit krassen Völker- oder Menschenrechtsverletzungen ist ein Boykott wohl die verantwortungsvollere Alternative als Erfahrungen vor Ort.

Simon Widmer, Redaktor Ressort Ausland, Tamedia, Zürich:
Reisen in Autokratien? Ja, aber…

Simon Widmer.
Foto: Esther Michel

Darf man Ferien im Iran oder in China verbringen? In Ländern, wo Menschen gefoltert, Oppositionelle eingesperrt und Minderheiten unterdrückt werden?

Ja, ein Teil des Geldes wird bei den repressiven Regierungen landen. Ja, Touristen werden von Gräuelregimes gerne als Beispiel dafür herangezogen, dass ja alles in Ordnung sei.

Man darf die Einwohnerinnen und Einwohner eines Staates aber nicht mit ihrer Regierung gleichsetzen. Die grosse Mehrheit der Iranerinnen und Iraner kann nichts für die Menschenrechtsverletzungen des Mullah-Regimes. Die allermeisten Chinesinnen und Chinesen wissen nicht, dass im Nordwesten des Landes die muslimische Minderheit unter Zwang «umerzogen» wird.

Wer in undemokratische Ländern reist, wird auf Menschen treffen, die den Reisenden ihre Geschichten erzählen wollen: Vom Geld, das nicht ausreicht. Vom Staat, der sich nicht um die Armen kümmert. Von Spitälern, die überlastet sind. Vielen Menschen tut es gut, wenn man ihnen zuhört. Und sie profitieren finanziell vom Tourismus.

Unterm Strich kommt es auf die Art des Tourismus an: Wer in einer All-inclusive-Hotelanlage Ferien verbringt, hilft der lokalen Bevölkerung kaum. Wer aber den Kontakt zu den Menschen vor Ort sucht, kann dabei helfen, Brücken zu bauen. Wer verantwortungsvoll reist, soll dies auch in Autokratien tun dürfen.