Gastkommentar zur NeutralitätspolitikDas resolute Abrücken vom Mythos ist nötig
Neutralität war immer ein Mittel, nicht ein Ziel der schweizerischen Aussenpolitik. In der Welt des 21. Jahrhunderts spielt sie keine Rolle mehr, wie das jüngste Beispiel des Ukraine-Krieges zeigt.
Die volle Übernahme der EU-Sanktionen gegen Putins Russland war ein notwendiger und richtiger Entscheid der schweizerischen Aussenpolitik. Notwendig, weil alles andere zur Isolation der Schweiz im Kreise zivilisierter Staaten geführt hätte. Richtig, weil alles andere Unterstützung von Putins Kriegsmaschinerie bedeutet hätte.
Denn die Schweiz ist kein Leichtgewicht im Wirtschaftsverkehr mit Russland; 80% der russischen Mineralenergieexporte werden via die Schweiz gehandelt. Der hiesige Finanzmarkt ist bei weitem der beliebteste internationale Hafen für die Verwaltung der Gelder reicher Russinnen und Russen.
FDP-Präsident Thierry Burkart fordert eine engere Anlehnung an die Nato, da die Schweiz – wie der Ukraine-Krieg zeigt – sich allein nicht gegen nackte Aggression verteidigen kann. Burkart schliesst zwar eine Nato-Mitgliedschaft für die «neutrale Schweiz» aus, aber engere Zusammenarbeit geschieht via gemeinsame Übungen, Rüstungsbeschaffung und Vernetzung von Kommandostrukturen. Das ist ein durchaus ernsthaft zu prüfender, immerhin aber entscheidender Schritt weg vom Dogma des neutralen und bewaffneten Igels, das offiziell weiterhin gilt.
Militärisch mit der EU zusammenarbeiten
Weniger radikal ist eine resolute Annäherung an die EU, welche zwar sicherheitspolitisch nicht mit der Nato verglichen werden kann, aber auch in diesem Bereich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges vor entscheidenden Schritten steht. Die Schaffung einer raschen Eingreiftruppe – aus verschiedenen europäischen Streitkräften zusammengesetzt, aber unter einem einheitlichen EU-Kommando stehend – ist bereits beschlossen.
Falls die Schweiz sich wirklich sicherheitspolitisch internationaler ausrichten will, wäre eine Mitbeteiligung im Rahmen dieser Eingreiftruppe ein erster Schritt, der in Brüssel wohl auch von einem EU-Nichtmitgliedsland begrüsst würde. Zumal von einem Land wie der Schweiz, das über durchaus ernst zu nehmende Streitkräfte verfügt und wo laut einer Tamedia-Umfrage eine Mehrheit eine militärische Zusammenarbeit mit der EU wünscht.
In der Innenpolitik ist dazu das resolute Abrücken vom Mythos Neutralität nötig. Im gegenwärtigen Kontext nicht hilfreich sind dafür Diskussionen, ob via Deutschland gelieferte Munition an die vom Untergang bedrohte Ukraine kompatibel sei mit «Neutralität». Waffenlieferungen an die Ukraine sind angesichts der russischen Aggression selbstverständlich und entsprechen gesundem Menschenverstand ebenso wie der Notwendigkeit einer vernünftigen Aussenpolitik.
Dass eine Neutralitätsdefinition aus dem 19. Jahrhundert (vom Wiener Kongress von 1815) und ein überholter internationaler Vertrag vom Beginn des 20. Jahrhunderts (die Haager Landkriegsordnung von 1907) dagegen sprechen würden, ist im 21. Jahrhundert mit seinem seitdem völlig anderen Europa nicht mehr zutreffend. Die Schweiz kann jederzeit ihre Aussenpolitik ihren wirklichen Interessen anpassen. Wie es die anderen, bis Mitte des 20. Jahrhunderts ebenso Neutralen – Schweden, Finnland und Österreich – seit geraumer Zeit tun.
Ebenso unnötig ist eine vermeintlich «neutrale» Haltung, weil die Schweiz doch traditionell Gute Dienste im Sinne von Vermittlung leiste. Diese haben nichts mit Neutralität zu tun. Sie werden durch jenen Staat geleistet, der in einem gegebenen Moment sowohl von der Sache als auch den eigenen Mitteln her dazu in der Lage ist. Das war in den letzten Jahrzehnten oft das Nato-Mitglied Norwegen, im Falle des Ukraine-Krieges allenfalls das Nato-Mitglied Türkei. Die Übernahme von Schutzmachtmandaten und die Bedeutung von Genf als Begegnungsort ist eine Funktion von Geschichte und Standortförderung, hat aber höchstens in historischer Perspektive mit Guten Diensten zu tun.
Kein Zwang zur Neutralität
Die schweizerische Aussenpolitik muss sich nach den in der Bundesverfassung verankerten Zielen richten. Diese sind: Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihrer Wohlfahrt, Linderung von Not und Armut in der Welt, Achtung der Menschenrechte und Förderung der Demokratie, friedliches Zusammenleben der Völker und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Neutralität ist ausdrücklich und absichtlich nicht in diesem zentralen Zweckartikel zur Aussenpolitik erwähnt, sondern nur weit hinten bei den Mitteln. Dieses Mittel ist im Europa des 21. Jahrhunderts überholt und sollte irgendwann aus der Verfassung entfernt werden.
Die Neutralität wird der Schweiz weder von aussen aufgezwungen noch vom Völkerrecht zwingend vorgeschrieben. Wir können jederzeit, ohne weiteres, und ohne jede völkerrechtliche Erklärung von der Neutralität abrücken; im Moment wären wir des speziellen Beifalls der westlichen Staatengemeinschaft sicher angesichts des Aggressionskrieges von Putin. Die Schweiz führt ihre Aussenpolitik wie im eben erwähnten Zielartikel vorgeschrieben. Neutralität hat damit nichts mehr zu tun.
Daniel Woker ist Co-Gründer von Share-an-Ambassador und ehemaliger Botschafter.
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