Irritierender EntscheidDas IOK pfeift auf die Moral – Russen sollen wieder mitmachen
Das Internationale Olympische Komitee findet es wichtiger, Russen und Weissrussen zuzulassen, als ukrainische Athletinnen zu schützen. Das ist schwach.
Das Internationale Olympische Komitee (IOK) empfiehlt allen Sportverbänden, Sportlerinnen und Sportler aus Russland und Weissrussland wieder an internationalen Wettbewerben zuzulassen. Das gab der Dachverband nach der Sitzung des Exekutivkomitees in Lausanne bekannt.
Es ist der erwartete neue Tiefpunkt. Vor gut einem Jahr hatte das IOK vorgeschlagen, Athleten aus den kriegstreibenden Ländern auszuschliessen. Dass diese Empfehlung fallen könnte, hatte IOK-Präsident Thomas Bach schon vor einigen Wochen angedeutet. Unter anderem mit einem Brief.
Als die Ukraine mit einem Boykott der Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris drohte, falls dort russische und weissrussische Athletinnen und Athleten zugelassen sind, erhielt sie vom höchsten Olympier ein Schreiben. Bach teilte darin mit, dass ein Olympiaboykott gegen die Olympische Charta verstossen würde und eine Suspendierung nach sich ziehen könnte.
Ist das noch Hohn oder einfach nur himmeltraurig? Was sicher ist: Bachs Brief an die Ukraine zeigt, dass ein IOK-Präsident keine Haltung braucht. Wer redet schon von Moral? Für die Wiederwahl genügt es, wenn er das Geld möglichst grosszügig verteilt. Wie bei der Fifa.
In wichtigen Fragen wie jenen nach den Menschenrechten haben sich die grossen Verbände eher rückwärts- als vorwärtsentwickelt. Wegen der Apartheid war Südafrika bis 1991 und fast drei Jahrzehnte lang von Olympischen Spielen ausgeschlossen. Jetzt aber genügt ein Krieg nicht, um mit Russland den Aggressor und mit Weissrussland seinen wichtigsten Helfer auszuschliessen?
Das IOK stützt sich auch auf eine UNO-Empfehlung
Das IOK stützt sich bei seiner Empfehlung auch auf das Fazit zweier UNO-Sonderberichterstatter. Diese schreiben, das IOK habe die «zwingende Verpflichtung», sich an die Olympische Charta und die internationalen Menschenrechtsnormen zum Verbot von Diskriminierung zu halten. Sie schreiben: «Wenn Staaten die Menschenrechte so sehr missachten, haben wir eine noch grössere Verpflichtung, für unsere gemeinsamen Werte einzustehen.»
Überspitzt formuliert finden die Sonderberichterstatter also: Die Russen können in der Ukraine Zehntausende Menschen töten, sie können Zehntausende eigene Soldaten in den Tod schicken und Atomwaffen in Weissrussland stationieren ohne gravierende Auswirkungen auch im Sport?
Entspricht es tatsächlich dem olympischen Geist, wenn demnächst Ukrainerinnen gegen Russinnen antreten müssen?
Erstaunlich wirkt ausserdem, wie einseitig der auch in der Vergangenheit immer wieder russenfreundliche Bach und die UNO-Abgesandten die Olympische Charta auslegen, das IOK-Regelwerk also. Darin steht: «Die Ausübung des Sports ist ein Menschenrecht. Jeder muss die Möglichkeit haben, Sport zu treiben, und zwar ohne jegliche Diskriminierung und im olympischen Geist, der gegenseitiges Verständnis im Geiste der Freundschaft, der Solidarität und des Fair Play erfordert.»
Entspricht es tatsächlich dem olympischen Geist, wenn demnächst Ukrainerinnen gegen Russinnen antreten müssen? Oder werden nun einfach die Gefühle der Athletinnen und Athleten aus der Ukraine ignoriert für die Teilnahme der Russinnen und Weissrussen?
Wohin das führen kann, ist auf der professionellen Tennistour immer wieder zu beobachten, wo Russen und Weissrussinnen mitspielen dürfen. Und wo jüngst eine Ukrainerin deswegen «mental zusammengebrochen» ist, wie sie selbst sagte.
In der Charta steht erstaunlicherweise nicht, dass kriegstreibende Nationen von den Spielen ausgeschlossen werden können. Gemäss Charta hätte das IOK aber auch die Pflicht, sich gegen politischen Missbrauch des Sports zu wehren. Das IOK glaubt nun, dass es mit der neu ausgesprochenen Bewilligung für Russen und Weissrussen genau das tut.
Die Russen müssen als neutrale Athleten antreten, also ohne vermerkte Nationalität, ohne Landesflagge und Nationalhymne. Doch die Frage ist: Wie neutral können Sportlerinnen sein, die dem staatlichen System entstammen?
Im Fall von Russland lassen sich Sport und Politik unmöglich trennen
Sport und Politik lassen sich häufig und in diesem Fall ganz sicher nicht trennen. Russische Sportler werden zum grössten Teil durch den Staat gefördert, oft sind sie mit ihm finanziell verbunden. Und ob sie jetzt unter russischer Flagge oder ohne Landesfarben starten: Siege der eigenen Athletinnen und Athleten werden vom Team Putin seit je für politische Propaganda missbraucht.
Bestimmt gibt es russische Sportler, die diesen Krieg verurteilen und mit einem Ausschluss ihrer sportlichen Träume beraubt würden. Das ist stossend. Aber viel stossender wäre es, sie auf Kosten von Ukrainern starten zu lassen. Und auf Kosten vieler weiterer Athleten, die sportliche Wettkämpfe gegen Russen und Weissrussen ebenfalls ablehnen.
Die Position des IOK ist für die einzelnen Verbände nicht bindend, und das IOK behauptet auch, dass der jüngste Beschluss noch nicht bedeute, dass Russinnen und Weissrussen 2024 in Paris starten dürfen. Klar aber ist: Der Entscheid hat wie die empfohlene Sperre vor gut einem Jahr starke Signalwirkung. Wenn in anderen Sportarten Russinnen und Weissrussinnen wieder starten können, getraut sich der Leichtathletik-Weltverband dann weiterhin, am Ausschluss festzuhalten, wie er das bis zuletzt gesagt hatte?
Hoffentlich tut er das. Es gibt keinen vernünftigen Grund, kriegstreibende Länder im internationalen Sport mitmachen zu lassen. Es kann gut 15 Monate vor den Sommerspielen auch keine zeitliche Dringlichkeit wegen Qualifikationswettkämpfen bestehen. Sollte Putins Russland noch vor den Wettkämpfen in Paris zur Vernunft kommen, liessen sich Sportlerinnen und Sportler immer noch mit Wildcards oder nach landeseigenen Ausscheidungen einladen – wenn das dann überhaupt erwünscht sein kann.
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