Kolumne «Tribüne»Das grosse Kündigen
Michael Wiederstein, Publizist und Executive Editor bei getAbstract, über die neu gewonnene Macht der Arbeitnehmenden.

In den USA reden gerade alle von der «Great Resignation». Die Rede ist von Millionen Arbeitnehmern, die keine Lust mehr auf ihre Jobs haben – und kündigen. 2021 taten das so viele in so kurzer Zeit wie wohl nie zuvor: über 40 Millionen, also etwa ein Drittel aller Angestellten!
Tatsächlich sind das zwar «nur» knapp 10 Prozent mehr als in normalen Jahren, denn die Amerikaner sind stets kündigungsfreudig. Das Ganze ist aber deshalb überraschend, weil wir in einer Krise stecken und Krisen sich meist dadurch auszeichnen, dass die Leute nicht kündigen, sondern rausgeworfen werden – erst recht in den USA, wo die Arbeitnehmerrechte überschaubar sind. Nun dreht sich der Spiess, denn auch die 10 Prozent zusätzlicher Kündigungen haben enorme Auswirkungen. Kaum eine US-Firma klagt derzeit nicht über fehlendes Personal, das Recruiting wird zum Spiessrutenlauf, denn die Macht über die Anstellungsbedingungen verschiebt sich rasant zu den Bewerbern.
Die Demografie spielt ihnen in die Karten: Es gibt viel weniger junge Talente, die in die Arbeitswelt nachrücken, als alte Arbeitnehmer, die keine Lust mehr auf sie haben – in den USA spricht man schon vom «Silberrücken-Exodus». Wirtschaftsamerika diskutiert deshalb nun nichts lebhafter als Jobanreize für Alt und Jung, die man selbst im demokratischen Lager bis vor kurzem als sozialistisch bezeichnet hätte: flexiblere und kürzere Arbeitszeiten, mehr Ferien, Wegfall der Präsenzpflicht, Elternzeit, Kitagelder, E-Dienstwagen.
Dieses Brimborium ist nur ein Vorgeschmack darauf, was der Schweiz blüht. Denn: Unser Kontinent vergreist noch schneller als alle anderen. Und egal, ob es um den Abbau bürokratischer Hürden für Talente aus dem Ausland geht, um ein höheres Renteneintrittsalter oder um die Teilhabe am EU-Förderprogramm Horizon 2020: Statt eine «Great Resignation» frühzeitig abzuwenden, betreibt die Schweiz wohlstandstrunkene Souveränitätspolitik. Wechselwillige mit etwas Ausdauer dürfen sich freuen: Um notwendige Talente zu finden und zu halten, werden Arbeitgeber je länger, desto kreativer sein müssen. Für Firmen und Konsumenten sieht die Sache aber weniger rosig aus: Konservativ gerechnet kostet die Neubesetzung einer Position 30 bis 50 Prozent eines dort verdienten Jahresgehalts. Da ein durchschnittlicher Schweizer 78’000 Franken verdient, können Sie sich ausrechnen, was da bei nur ein paar Prozent mehr Wechselwilligen auf uns zukommt.
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