Letzte Ruhstätte einer Elite?Das geheimnisvolle Dolmengrab von Oberbipp
Ein aussergewöhnliche Ausgrabung zeigt, wie die Menschen vor 5000 Jahren in der Schweiz lebten. Überraschend ist auch die Rolle der Frauen, die mobiler waren als die Männer.
Aus der Wiese ragte ein überdimensionierter Stein, gestört hatte das den Landwirt schon lange. Deshalb beschloss er eines Tages, ihn mit dem Bagger zu entfernen. Freuen würde sich darüber auch sein Enkel, war er überzeugt. Doch als die beiden den Stein mit der Schaufel zu bewegen versuchten, kamen Knochen zum Vorschein, und es wurde schnell klar: Der riesengrosse Stein liegt aus einem besonderen Grund in der Erde von Oberbipp am Jurasüdfuss. Der Bauer war auf ein Dolmengrab aus der Jungsteinzeit gestossen. Er reagierte vorbildlich, alarmierte die Behörden des Kantons Bern, und ein wissenschaftliches Team barg die Funde mit den neusten Methoden.
Das war vor zehn Jahren. Kürzlich ist eine abschliessende Studie der Universität Bern und des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern zur Grabung erschienen. Sie lüftet einige Geheimnisse, wie die Menschen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz vor rund 5000 Jahren lebten, zeigt, wie überraschend mobil sie waren, und wirft viele Fragen auf, inwieweit wir uns bei der Interpretation ferner Epochen auf spätere Gesellschaftsmuster stützen können.
5000 Jahre vor unserer Zeit
Das Studienteam identifizierte die Knochen von mindestens 42 Menschen: 24 Erwachsene, 7 Jugendliche, 10 Kinder und ein Neugeborenes. Mithilfe der Oberschenkelknochen konnten die Forensikerinnen den Fund datieren und fanden heraus, dass die meisten Menschen zwischen 3350 und 2950 vor Christus beerdigt wurden. Diese Phase der Jungsteinzeit nennt man nach einem Fund am Zürichsee auch «Horgener Kultur».
Das Grab wurde in mindestens zwei Phasen genutzt, drei Oberschenkelknochen stammen aus einer etwas späteren Zeit zwischen 2900 und 2600 vor unserer Zeitrechnung. Nicht alle Erwachsenen starben jung, einige erreichten ein Alter zwischen 40 und 60 Jahren. Die durchschnittliche Grösse lag zwischen 154 und 157 Zentimeter.
«Wir hatten bisher noch nie so viele Skelette aus jener Zeit in einem derart gut erhaltenen Dolmengrab.»
«Das Dolmengrab von Oberbipp ist ein aussergewöhnlicher Fund», sagt Rouven Turck, Experte für prähistorische Archäologie an der Universität Zürich. «Wir hatten bisher noch nie so viele Skelette aus jener Zeit in einem derart gut erhaltenen Dolmengrab.» Weil das Mittelland über Jahrtausende landwirtschaftlich stark genutzt wurde, sind weniger Spuren von prähistorischen Bewohnern geblieben als beispielsweise in Deutschland oder Frankreich.
Der Dolmen von Oberbipp ist eine Ausnahme. Er ist so gut erhalten, weil die Menschen den Boden in der Region ab dem Mittelalter regelmässig fluteten. So wurden immer mehr Sedimente in das Grab geschwemmt und bedeckten es langsam. Irgendwann schaute nur noch die Spitze des Decksteins aus dem Erdreich.
Wer also waren diese Oberbipper?
Dolmengräber entstanden ab 3500 vor unserer Zeitrechnung in verschiedenen Regionen Europas. Auch der Steinkreis von Stonehenge, den die Menschen teilweise als Begräbnisort nutzten, ist rund 4500 bis 5000 Jahre alt. Wer also waren diese Oberbipper, und wie lebten sie?
In der Jungsteinzeit wohnten die Menschen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz in Pfahlbauten an Seen, wie beispielsweise dem Zürichsee. «Das Oberbipper Dolmengrab zeigt nun aber, dass damals auch andere Regionen des Mittellandes besiedelt waren», sagt Turck. Gelebt haben die prähistorischen Menschen vermutlich in ebenerdigen, einräumigen Häusern, die den Pfahlbauten ähnlich waren, einfach ohne den Unterbau.
Ernährt haben sie sich mit Ackerbau und Viehzucht, wie die Analyse der Knochen zeigte. Auch Alltagsgegenstände fanden die Forscherinnen im Grab: Pfeilspitzen, Messer, Keramikscherben und Anhänger aus Tierzähnen und Muscheln – vermutlich Schmuckstücke der Verstorbenen.
Das Dolmengrab ist eine eindrückliche Konstruktion, vier Gneisplatten bilden die Wände, auf denen der grosse Deckstein ruhte. Die Grabkammer selbst war 2 m lang, 1,40 m breit und 70 cm hoch. Die Masse beweisen, dass die Kammer über längere Zeit in Gebrauch war, nicht alle Toten hätten gleichzeitig Platz gefunden. Den schweren Deckstein transportierten die Menschen möglicherweise auf die stützenden Platten, indem sie die Konstruktion mit Erde füllten, die sie dann später wieder entfernten. Genau nachweisen lässt sich das nicht mehr.
Warum ausgerechnet diese Oberbipper in einem solch besonderen Grab bestattet wurden, lässt sich heute nicht mehr eindeutig klären. Auch nicht, was mit allen anderen Toten in jener Zeit geschah, ob sie irgendwo in der Natur abgelegt wurden und deshalb keine Spuren hinterliessen. Das aufwendig konstruierte Dolmengrab könnte die letzte Ruhestätte einer Elite sein.
Die Forscherinnen glauben jedoch an eine andere Theorie. «Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Grabanlage der Bestattungsplatz einer lokalen Gemeinschaft war, die egalitär lebte», sagt Archäologin Marianne Ramstein, eine der Hauptautorinnen der neuen Studie. Spuren an den Skeletten zeigen nämlich auch, dass die Oberbipper damals in einer fürsorglichen Gemeinschaft lebten, die Verletzungen und Krankheiten ihrer Mitglieder zu behandeln versuchte. Mehrere Tote hatten verheilte Knochenbrüche. Ramstein begleitete die Ausgrabung des Dolmengrabs für den Archäologischen Dienst des Kantons Bern von Beginn weg.
Das Geschlecht der Verstorbenen liess sich nicht mehr in jedem Fall bestimmen, aber 12 Männer und 9 Frauen konnten die Forscherinnen nachweisen. Dabei fiel etwas auf, das ein faszinierendes Licht auf die Jungsteinzeit wirft: Die Männer im Dolmengrab waren teilweise miteinander verwandt und stammten aus der Region Oberbipp.
Drei Generationen einer Familie konnte das Team identifizieren und ein Brüderpaar. Doch keine der Frauen war mit einer anderen verwandt. Sie kamen möglicherweise von weiter her, vermutlich aus anderen Regionen des Mittellandes. Feststellen lässt sich das mit einer Analyse gewisser Isotope in Knochen oder Zähnen.
Verengter Blick der Forscher
Es gab in der Forschung immer wieder Diskussionen, welche Schlüsse man daraus ziehen kann. Am häufigsten wird spekuliert, dass die Frauen, um zu heiraten, ins Dorf oder auf den Hof des Mannes zogen. Die Forscherinnen sprechen in ihrer Studie von einer «virilokalen Gesellschaft». Die Datenbasis für diese Annahme ist mit 16 untersuchten Individuen, wie sie selbst anmerken, aber sehr klein.
Zudem gibt es keine Belege dafür, dass eine mögliche Ehe der Grund für die Mobilität der Frauen war. «In der Forschung zur Prähistorie wird der Blick bei nicht lokalen Frauen schnell auf die Heirat verengt, während man bei Männern auch an andere Mobilitätsgründe wie beispielsweise Handel denkt», sagt Brigitte Röder, Professorin im Fachbereich Ur- und Frühgeschichte der Universität Basel.
Diesen verengten Blick haben Prähistorikerinnen und Archäologinnen in den letzten Jahren immer wieder kritisiert. Denn Gesellschaftsmodelle aus Mittelalter oder Neuzeit liessen sich nicht einfach auf frühgeschichtliche Epochen übertragen. So zeigt die Analyse des Ernährungszustandes der Toten von Oberbipp beispielsweise auch, dass Frauen und Männer sich gleich ernährten und es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Protein-Aufnahme gab. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie auch ähnliche Arbeiten verrichteten.
Mit ihrer Mobilität verbreiten Menschen kulturelles und soziales Wissen in ihrer neuen Heimat.
Welchen Grund die Frauen auch immer für ihre Mobilität hatten, selbst eine gewaltsame Entführung kann man nicht ausschliessen. Es ist jedenfalls faszinierend, über die kulturgeschichtlichen und sozialen Folgen der weiblichen Mobilität nachzudenken. Alle Menschen, ob Frau oder Mann, verbreiten mit ihren Wanderbewegungen auch kulturelles und soziales Wissen in ihrer neuen Heimat.
Einem deutschen Forscherteam gelang in diesem Zusammenhang vor einigen Jahren ein überraschender Fund. Bei einer Analyse von 84 Skeletten aus dem bayrischen Lechtal fand das Team heraus, dass zwischen 2500 und 1700 vor unserer Zeitrechnung in der Region immer wieder Frauen, vermutlich aus Böhmen, einwanderten und dass sie es waren, die das Wissen um die richtige Metallverarbeitung in Bayern verbreiteten. Diese Frauen wurden in reich ausgestatteten Gräbern beigesetzt und «waren die treibende Kraft hinter der überregionalen Kommunikation und dem Wissenstransfer», wie die Autoren schrieben.
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